Brasilien 1958- Beginn der modernen FormationWenn man von "modernem" Fußball spricht, unterscheidet ihm 2 grundsätzliche Dinge vom "alten" Fußball. Dieses Kapitel soll eine Facette davon besonders beleuchten.
Bis auf die Donauländer ( Österreich , Tschechien und Ungarn) spielten ab den 30er Jahren alle Mannschaften auf der Welt das WM-System, bzw. Variationen davon ( z.B. den Metodo). Doch wurde dieses System nicht überall vollends akzeptiert und als unattraktiv befunden. Dies war insbesondere in Brasilien der Fall. Schon 1941 experimentierten Vereine wie Flamengo mit einem neuen Spielsystem. Ein "schiefes ´" 4-2-4 lässt sich feststellen. Dabei ließ sich ein Innenstürmer ins heutige offensive Mittelfeld zurückfallen , ein Außenläufer rückte knapp vor die Abwehr . Prinzipiell war das eher ein 3-1-1-1-4. Vom "Spielradar" her war dieses System durchaus beachtlich und innovativ, von der Spielweise her allerdings nicht unbedingt erfolgreich. Brasiliens Fußball war schon immer dynamischer als z.B. in England, die Individualität des einzelnen Spieler war deutlich mehr gefragt. Dies war beim neuen System nicht anders.
Bei der Weltmeisterschaft 1950 waren die angesprochenen Änderungen zu sehen, aber im letzten und entscheidenen Spiel gegen Uruguay ( die ein 1-3-3-3 System spielten, siehe auch: Schweizer Riegel) griff man wieder auf das WM-System zurück. Warum der Trainer auf das alte System zurückgriff, ist ähnlich umstritten wie der gleiche Vorgang 1954 bei den Ungarn.
Man dominierte die ersten Spiele im schiefen 4-2-4, doch scheint man Uruguay für so stark gehalten zu haben, auf Experimente zu verzichten. Der große Star Brasiliens , Peles Vorbild Zizinho, war zunächst verletzt und kehrte zur Mannschaft zurück, als man nur unentschieden gegen die Schweiz spielte. Dies schien den Trainer verunsichert zu haben.
Dennoch zeigten die Vorrundenspiele das große Potenzial dieses Systems.
Wer nun dieses 4-2-4 in Reinform erfand, ist nicht genau geklärt, ich denke, es gab 3 treibende Kräfte. 1951 ist in Brasilien das klassische 4-2-4 das erste mal ordentlich belegt. Deshalb scheidet Brasilien meiner Meinung nach als Erfinder aus. Bleiben noch Ungarn und die Sowjetunion. Sebes führte das 4-2-4 etwa 1950 ein, Boris Arkadiew wohl einen Tick früher. Dennoch liefen die Entwicklungen voneinander unabhängig und sie hatten trotzdem noch nicht viel mit dem 1958er 4-2-4 System zu tun: Was die brasilianische Variante betrifft, will ich nicht zu viel vorweg nehmen. Kurz gesagt, waren die Spielerrollen anders bzw. noch gar nicht definiert. Sebes' 4-2-4 lässt sich mit keinem anderen Spielsystem vergleichen, da es einfach zu speziell auf die Mannschaft zugeschnitten war. Arkadiews "organisiertes Chaos" war ebenfalls sehr speziell.
Dennoch war wohl das bereits angesprochene 4-2-4 System von 1951 doch schon sehr weit entwickelt, zumindest was die Defensive betraf. Wie die spätere Mannschaft von 1958 wurde ein Außenläufer in die Innenverteidigung gezogen und zog während des Spiels immer wieder ins Mittelfeld . Ein offensiver Innenverteidiger sozusagen. Der Mittelstürmer spielte stark zurückgezogen im Mittelfeld , allerdings war er noch kein Mittelfeldspieler wie 1958. Zudem wurde von Mann- auf Raumdeckung umgestellt - ein kleiner Fingerzeig auf das nächste Kapitel-, was den Spielfluss deutlich verbesserte.
Ab Mitte der 50er Jahre wurde dann auch in der brasilianischen Nationalmannschaft der "Ponta da Lanca" eingeführt- ein Halbstürmer wurde das Verbindungsglied zwischen Mittelfeld und Sturm-, was in Ungarn Ferenc Puskas in Perfektion zelebrierte. Diese Spielerrolle sollte 1958 ein Teenager ausführen, doch dazu später mehr.
Um schon mal die Formation von Brasilien 1958 vor Augen zu führen, hier mal eine FM-Grafik
Schauen wir uns die Spielerrollen genauer an. Die Außenverteidiger an sich sind ein absolut neues Phänomen. Sie erfüllten noch keine offensiven Aufgaben wie 1970, aber ihre technischen Fertigkeiten waren weltweit unübertroffen und wurden erst spätert durch Facchetti übertroffen. Orlando war der klassische Innenverteidiger, während Bellini auch ins Mittelfeld vorstieß. Über das Mittelfeld will ich jetzt noch nicht so viele Worte verlieren, aber nochmal ist zu betonen , dass man nun von einem Mittel
Feld sprechen muss.
Garrincha war die Kopie von Stanley Matthews, vielleicht der beste Techniker , den Brasilien je hatte. Vava war ein klassischer Mittelstürmer. Interessant wird es bei Pele und Zagallo. Pele war seiner Zeit 50 Jahre voraus, keine Frage. Er verkörperte nämlich die "falsche 9". Nichts anderes. Und zwar verkörperte er sie nach dem heutigen Verständnis, insofern wirkt Pele in dieser Position bis heute nach. Da ich Pele gern später im anderen Thread behandeln möchte, möchte ich es daher dabei auch schon belassen.
Für beide Titelgewinner der Brasilianer wichtiger halte ich aber Mario Zagallo. Dieser hatte prinzipiell die gleiche Funktion wie Jair bei Inter Mailand. Als Flügelstürmer zog er sich oft ins Mittelfeld zurück, sodass Garrincha auf der anderen Seite seine gefährlichen Flügelläufe zelebrieren konnte. Zagallo zeigte auch Brasiliens nächste Innovation, er war 1962 im linken Mittelfeld zu finden - Das 4-3-3 System war geboren.
Soviel zu den Spielerrollen.Diese müssen nun natürlich in ein Spielsystem , in einer Teamspielweise verpackt werden, die ebenfalls innovativ sein musste, wollte man die Finalniederlage 1950 und das Debakel 1954 überwinden. Der Vater des 4-2-4 Systems Brasiliens 1958 ist daher meiner Meinung nach der ungarische Trainer Béla Guttmann, der seine Idee in Brasilien einführte.
Guttmann, der später mit Benfica den Europapokal der Landesmeister gewinnen sollte, war, typisch für einen Ungarn, ein Verfechter des Offensivspiels. 1954 war Brasilien erstaunlich defensiv, destruktiv spielend aufgefallen. Es fehlte die Zielstrebigkeit, auch im Abschluss. Letzteres war beim österreichischen Wunderteam ähnlich. Béla Guttmann brachte die Zielstrebigkeit der Aranyczapat mit nach Brasilien. Das Spiel nach vorn wurde wieder beschleunigt, Kombinationen liefen flüssiger. Auch wenn Guttmann nur 1 Jahr in Brasilien verweilte sollten seine Trainingsmethoden und seine Einstellung zum Spiel auch den Fußball in Brasilien verändern.
Kurz nochmal zum Mittelfeld: Man muss nun die alte Einteilung Torwart-Verteidiger-Läufer-Sturm durch Torwart-Verteidigung-Mittelfeld-Sturm ersetzen. Warum? Der Grund liegt bei den Außenverteidigern und den Flügelstürmern. Diese hielten sich in allen 4-2-4 Systemen nun immer häufiger im mittleren Feld auf- also auf den eigentlichen Läufer-Positionen, während die Außenläufer entweder in die Innenverteidigung oder ins defensive/zentrale Mittelfeld einrückten. In der Zentrale hielten sich mindestens 2 Spieler auf, die dort auch blieben. Zudem gesellten sich auch torgefährliche Spieler, wie oben bereits gesehen, Didi in die Zentrale , was zu einer Aufwertung dieses Spielbereiches führte.
Fassen wir , bevor wir zur WM 1958 kommen, nochmal alles zusammen. Brasilien verfügt über ein neues Spielsystem, das es in den anderen Teilen der Welt noch nicht in einer entwickelten Form gibt. Das WM-System ist noch überall allgegenwärtig. Außerdem ist die Raumdeckung in Brasilien etabliert. Dazu kommen die neuen Spielerrollen und die Einstellung, konsequent nach vorn zu spielen und eiskalt abzuschließen. Vom Brasilien 1954 unterschied sich sie 58er Mannschaft in den eben aufgeführten Kategorien daher um Welten.
Doch es fehlt noch eine wichtige Komponente, ohne die Brasilien wohl nicht Weltmeister gewesen wäre. Es brauchte einen Trainer, der ein Gefühl dafür hatte, die richtigen Spieler auf der richtigen Position einzusetzen und diese Spieler psychisch auf ihre Rolle vorzubereiten. Dieser Trainer hieß Vicente Feola.
Feola entschied sich, gegen Widerständen einiger "Psychologen" und anderer Kritikerim eigenen Land zwei Spieler nach Schweden mitzunehmen, die bis heute unvergessen sind. Er vertraute auf einen 17 jährigen Offensivspieler, der schon in diesem Alter seine Klasse offenbarte und zum besten Fußballspieler aller Zeiten werden sollte.
Pele hatte, ähnlich wie Sindelar, ein komplett anderes Spielverständnis seiner Zeit. Was Pele von allen anderen Fußballern unterschied , war die beeindruckende Fähigkeit, Technik, Teamwork und Übersicht im richtigen Moment gewinnbringend einzusetzen. Die fußballerischen Fähigkeiten waren im Prinzip nur ein Werkzeug. Aber diese, wie ich sie nenne, "spontane Spielintelligenz", also im richtigen Moment das optimale zu tun, hebt Pele aus der Zeit heraus. Im übrigen halte ich Lionel Messi in diesem Bereich für vergleichbar ebenbürtig, letztendlich ist es nämlich diese Eigenschaft, die ihn aus vergleichbaren Spielerpersönlichkeiten ( Maradona, George Best, Roberto Baggio) nochmal heraushebt. Aus diesen beiden Komponenten, fußballerische Fähigkeiten und spontane Spielintelligenz, beide in übernatürlichen Maße vorhanden, lassen sich die 50 Saisontore eines Lionel Messi oder eben die 1200 Tore eines Pele erklären.
Feola erkannte dies bei dem erst 17-jährigen.
Zum anderen nahm er mit Garrincha einen Rechtsaußen mit einem X- und einem O-Bein mit, um dem Gegner einen Gegenspieler zu geben, der unausrechenbare Aktionen vollzog.
Dazu kam mit Zagallo ein absolutes Taktikgenie auf dem Platz, der ,ähnlich wie 1954 Fritz Walter, jede Regung des Trainers Feola wahrnahm und so für eine Stabilität des Systems sorgte. Didi galt 1958 als bester Spieler Brasiliens, der früherer Stürmer agierte im zentralen Mittelfeld und bediente die Spitzen vorzüglich, ohne den eigenen Torabschluss zu vernachlässigen. Die Verteidigung war für brasilianische Verhältnisse weltklasse. Wie sich im Turnier zeigen sollte, war es Brasiliens Raumdeckung und 4-er Verteidigung, die den Gegnern immer wieder den Zahn zog.
Kommen wir nun zu den Spielen:
Vorrunde:
Brasilien- Österreich 3:0
Brasilien- England 0:0
Brasilien UdSSR 2:0
In meinen Augen war das eine Todesgruppe. Österreich befand sich zwar schon auf einem absteigenden Ast, dennoch war der Donaufußball immernoch sehenswert, doch letztlich war die Defensive mit der konsequenten Spielweise Brasiliens überfordert. Das 2:0 schoss übrigens Nilton Santos, ein kleiner Fingerzeig, wie wichtig die Außenverteidiger in Brasiliens WM-Geschichte noch werden sollten.
Gegen England stieß Brasilien in der Offensive an seine erste Grenze. das 0:0 nahm Feola zum Anlass, ab dem nächsten Spiel den 17- jährigen Pele zu bringen. Dieser zeigte dann im Spiel gegen die UdSSR seine klasse und trieb, obwohl ohne Torerfolg, die Mannschaft zu einem ungefährdeten 2:0 Sieg. Dass das Ergebnis nicht höher ausfiel, lag an dem überragenden Jaschin, der zum besten Torhüter des Turniers gewählt wurde.
Viertelfinale:
Brasilien- Wales 1:0
Gegen die wohl beste Waliser Nationalmannschaft reichte es "nur" zu einem 1:0 Sieg. Dies lag daran, dass Wales deutlich defensiver agierte, als angenommen. In meinen Augen ist dies der erste Ansatz eines Nachdenkens gegen das neue System der Brasilianer. Pele sorgte dann aber doch noch für den Siegtreffer.
Halbfinale:
Brasilien- Frankreich 5:2
In meinen Augen ist dies das beste Spiel einer Mannschaft, die je ein klassisches 4-2-4 zelebrierte. Führen wir uns die Voraussetzungen vor Augen. Frankreich war die Torfabrik der WM 1958. Raymond Kopa und Just Fontaine zerlegten die Gegner nacheinander. Und ausgerechnet in der brasilianischen Defensive beißt sich Frankreich dann die Zähne aus. Frankreichs Spielsystem hatte keine Mittel gegen Brasilien. Die 2 französischen Tore sind lediglich Resultate der körperlichen Unterlegenheit der Brasilianer. Pele und Vava waren mit je 2 Toren die Spieler des Tages, auch Garrincha schuf viele Freiräume, nie funktionierte der Brasilianische Sturm besser. Brasilien hätte eigentlich noch höher gewinnen müssen.
Finale:
Brasilien - Schweden 5:2
Erneut trafen Vava und Pele zwei mal. Brasilien war technisch eine Spur besser als die Schweden. Diese waren sehr konsequent im Abschluss, wie die 2 Tore zeigen, doch konnten sie nicht mit der Brillianz der Brasilianer mithalten.
Was lässt sich aus dieser WM schließen? Es ist auffällig, dass Brasilien ab dem Halbfinale seine Überlegenheit demonstrierte, gegen die besten Mannschaften des Turniers. Zudem lässt sich sagen, dass man gegen defensivere Mannschaften Probleme hatte ( Wales, ungewollter Weise auch England). Dennoch sagten auf allen Teilen der Erde die meisten Vereine dem Wm-System "Bye-bye" nach dieser WM. Der Grund lag daran, dass das Spielsystem der Brasilianer so extrem anders war, dass es ohne eigene Änderungen nicht fassbar wurde. Wollte man ein Gegenmittel gegen Brasiliens System finden, musste man das eigene System hinterfragen. Da stellen sich folgende Fragen: Brauche ich wirklich 5 Stürmer, wenn Brasilien mit 3 oder 4 Spitzen Frankreich abschießt? Ist die Manndeckung angemessen, wenn das Angriffsspiel des Gegners schon im Mittelfeld entwickelt wird? Soll ich meine Verteidigung so hoch stehen lassen? Wen sollen die Außenläufer denn decken?? Das 4-2-4 System der Brasilianer war deshalb so wichtig für die künftige Entwicklung des Fußballs, weil überaltete Strukturen bei der Beantwortung dieser Fragen aufgebrochen werden mussten. Der fünfte Stürmer starb kurz danach aus, die Außenläufer waren spätestens 1966 verschwunden. Zudem bot das 4-2-4 deutlich mehr Möglichkeiten in seiner Umsetzung. Brasilien 1958 ist die "Urformation" aller modernen Spielformationen.
Verfügte eine Mannschaft nur über 3 passable Stürmer, wurde ein zusätzlicher Mittelfeldspieler nötig - 4-3-3.
Waren die Flügelstürmer abschlusschwach, wurden diese ebenfalls ins Mittelfeld verschoben : 4-4-2
Unterschieden sich die zentralen Mittelfeldspieler aufgrund ihres offensiven bzw. defensiven Spielverständnisses, wurden diese einfach verschoben: 4-1-2-1-2 -> Die Raute ist nichts anderes als eine Variante des 4-2-4.
England wurde 1966 mit einem 4-1-3-2 System Weltmeister. Stiles war als defensiver zentraler Mittelfeldspieler nach hinten verschoben, Bobby Charlton aufgrund seiner offensiven Gesinnung nach vorn verschoben, Peters und Ball wurden als ehemalige Flügelstürmer einen Tick ins Mittelfeld verschoben. Man sieht also, letztendlich basiert alles auf personell bedingte Verschiebungen des ursprünglichen 4-2-4 Systems..............
Und einer Idee, die das Fußballspiel nochmals revolutionieren sollte, und zwar noch mehr als Brasiliens 4-2-4 System, denn erhielt erst dadurch der Fußball sein heutiges Gesicht..........
Was demnächst folgt: Viktor Maslow- Vater des modernen Fußballs- Interpretationen der Maslowschen Idee mit besonderem Fokus auf den totalen Fußball