Mein Schädel brummt. Langsam öffne ich ein Auge, das andere will irgendwie nicht. Meine Finger ertasten eine klebrige Substanz auf der Stirn und dem Auge: Blut? Ich rappele mich langsam auf, halte mich an der Bretterwand hinter mir fest. Erste Bestandsaufnahme: Scheinbar keine Verletzungen außer am Kopf. Was ist passiert? Wo bin ich?
Ich versuche mich krampfhaft zu erinnern. Die Umgebung hilft mir dabei nicht weiter. Bunt bemalte Häuser um mich herum. Die Sonne scheint und es riecht nach Meer. Keinen Schimmer, wo ich mich befinde. Und, noch schlimmer, wer ich bin! Kein Mensch in der Nähe, den ich fragen könnte. Panik keimt auf!
BILDIrgendwo in der Umgebung muß aber etwas los sein, denn ich höre Lärm, aufgeregte Rufe, die ich zwar nicht verstehe, die mir aber irgendwie vertraut erscheinen. Mit wackeligen Schritten gehe ich in diese Richtung los. Die Straße macht einen Knick und plötzlich stehe ich vor einem Fußballplatz. Spieler werden von einem wild gestikulierenden, älteren Herrn über den Rasen gescheucht. Am Rande des Spielfeldes stehen weitere Personen. Einer sieht mich kommen, greift sich sofort einen Metallkoffer und läuft auf mich zu:
"'Senor, .... " Außer der Anrede verstehe ich nur Bahnhof! Ich frage den Mann, wo wir uns befinden, aber er versteht mich offensichtlich ebensowenig, wie ich ihn.
Es muß sich um den Mannschaftsarzt oder Betreuer handen, denn aus seinem Koffer zaubert er Verbandsmaterial hervor. Nach kurzer Untersuchung säubert er meine Kopfwunde und verpaßt mir einen provisorischen Turban, auf den selbst Dieter Hoeneß stolz wäre. Dabei reden wir immer noch komplett aneinander vorbei. Ich vermute, er spricht spanisch, bin mir aber nicht sicher. Schließlich bemerkt der ältere Herr auf dem Rasen den Zwischenfall, unterbricht das Training und kommt zu uns herüber.
Wie sich herausstellt, kann er Englisch und ich auch, wie ich erleichtert feststelle. Er stellt sich als Senor
Luis Lufi vor, Co-Trainer der Santiago Wanderers, einem chilenischen Erstligaclub, beheimatet in der Hafenstadt Valparaiso. Chile? Ich krieg's immer noch nicht auf die Reihe. Meine Erinnerungen scheinen völlig ausgelöscht zu sein. Man bringt mich zu einer kleinen Tribüne, gibt mir zu trinken und organisiert einen Wagen, um mich zum nächsten Krankenhaus zu fahren. Ich bedauere fast, dass wir den Trainingsplatz verlassen, denn das alles hier kommt mir seltsam vertraut vor.
Im Krankenhaus stellt man eine mittelschwere Gehirnerschütterung fest, hervorgerufen durch einen Schlag mit einem metallischen Gegenstand. Ein Überfall! Die Polizei wird hinzugezogen, man fragt nach meinen Personalien. Immer noch keine Erinnerung. Der Arzt deutet an, dass eine Amnesie in so einem Fall durchaus vorkommen könne. Ich habe keinerlei Ausweispapiere bei mir, meine Taschen sind leer. Da ich mich am besten in Deutsch ausdrücken kann, was glücklicherweise einer der Ärzte beherrscht, informiert man die deutsche Botschaft in Santiago de Chile.
In der Zwischenzeit zermartere ich mir das Hirn, aber nur ein paar flüchtige Bilder flackern auf: Eine Menschenmenge mit seltsam rosafarbenen T-Shirts!
BILDUnd die Menge skandiert immer wieder ein Wort:
"Scampolo!".
Einer der Ärzte setzt sich an einen PC und tippt die Suchwörter "Deutschland" und "Scampolo" in eine Suchmaschine ein. Ich schaue ihm über die Schulter und plötzlich erscheint mein eigenes Gesicht auf dem Schirm! Eine Meldung der Deutschen Presseagentur:
"Fanproteste in München! Anhänger demonstrieren für Publikumsliebling Scampolo, Löwen-Trainer Quatmann tritt zurück!" Und dann ist die zumindest diese Erinnerung wieder da: Klar, ich war Trainer bei 1860 München, bis die Anfeindungen im Umfeld zu heftig wurden. Anschließend gönnte ich mir eine Auszeit. Aber wie kam ich nach Chile? Die letzten paar Wochen sind in meinem Gedächtnis noch immer ausgeblendet. Senor
Luife, der mich freundlicherweise zum Krankenhaus begleitet hat, reagiert seltsamerweise fast euphorisch auf meine wieder entdeckte Identität. Er erklärt dem Arzt, dass ich bei ihm wohnen könne, bis die Botschaft die Ersatzpapiere schickt. Als endlich alle Formalitäten erledigt sind, fahre ich mit Senor
Luife nach Hause, lerne seine Familie kennen und ziehe mich schließlich völlig erschöpft in deren Gästezimmer zurück.
Bevor ich endgültig einschlafe, höre ich gerade noch wie mein Gastgeber telefoniert:
"Hola, Senor Tardelli?" ...