Ich bin euch noch meine Meinung zu Dragon Age: The Veilguard "schuldig", die möchte ich nun nach mehr als 20 Stunden Spielzeit geben. Für alle, die nicht den ganzen Text lesen wollen: Es ist Fantasy Mass Effect, ohne dass du böse sein kannst.
Aber ich schreibe gerne noch ausführlicher:
Zunächst mal zum triggernden Elefanten im Raum: Die "Wokeness". Mal abgesehen davon, dass "woke" mittlerweile ein inhaltlich entleerter Begriff ist, der alles diffamieren soll, was vermeintlich (zu) progressiv ist, kann ich dazu Folgendes sagen: Es spielt in der Gesamtheit des Spiels kaum eine Rolle. Ja, natürlich sind die (sehr selten) genutzten geschlechtsneutralen Pronomen gewöhnungsbedürftig und auch geschlechtsneutrale Bezeichnungen sind teilweise seltsam. Aber das guckt und spielt sich weg, weil es nur bei einem Charakter wirklich relevant wird - bei allen anderen ist es nebensächlich und völlig unwichtig. Es wird halt als gegeben ins Spiel eingebaut und nicht weiter thematisiert. Dieser eine Charakter aber, der ist einfach schlecht geschrieben. Ich würde sogar so weit gehen, dass es dem Anliegen, Geschlechtsidentität so zu thematisieren, dass ein Verständnis dafür geschaffen wird, schadet. Denn dieser Charakter ist so plakativ non-binär, dass man meinen könnte, hier wurden schlicht Checkboxen abgearbeitet. In dem Sinne würde ich sogar sagen: Das Spiel ist überhaupt nicht woke. Ist die Kritik an diesem Punkt also gerechtfertigt? Ja. Ist sie überzogen? Ja, denn sie nimmt einen verhältnismäßig zu großen Raum ein. Kann man das Ganze ignorieren? Weitestgehend, denn man muss die Begleiter-Questlinie ja nicht machen.
Jetzt möchte ich aber über das Spiel an sich sprechen und das macht wirklich richtig, richtig viel Spaß. In diesem Spiel steckt sehr viel vom Bioware der 00er und frühen 10er-Jahre. Im Guten wie im Schlechten: Reduziertes Inventarsystem; klar differenziertes, aber nicht überkomplexes Skillsystem; plakatives Dialog- und Moralsystem; geführtes, schlauchiges Leveldesign; und ein storygetriebener Ansatz. Sie haben viele Elemente des "alten" Bioware genommen und weiterentwickelt. Nicht alles davon geht auf, aber Vieles.
Inventarsystem: Das ist super reduziert, aber nicht ganz so extrem wie ab Mass Effect 2. Dennoch gibt es lediglich 3 Item-Kategorien: Ausrüstung, Materialien, Wertgegenstände. Die Ausrüstung ist immer auf einen Charakter beschränkt, d. h. man findet oder kauft Ausrüstung, die entweder nur man selbst oder nur einer der Begleiter anlegen kann. Diese kann man dann im Laufe des Spiels aufwerten, indem man verbesserte Versionen davon findet oder in der Basis verbessert und verzaubert - wofür man die Materialien braucht. Die Wertgegenstände dienen lediglich dazu, Geld zu verdienen und Stufen bei den Fraktions-Händlern aufzusteigen. Simpel, aber gut, denn man verliert sich nicht in tausend Kleinigkeiten. Auch die Vergleichbarkeit der Stats von Gegenständen ist gut umgesetzt. Ich wiederhole mich: Simpel, aber gut.
Skills und Kampfsystem: Ich spiele als Magier und habe zwei Waffentypen zur Auswahl: Einen Stab, der eher auf Distanzangriffe ausgelegt ist und mit dem ich tendenziell mehr "Kontrolle" über das Schlachtfeld ausübe und ein Messer plus Orb (eine magische Kugel) - damit bin ich eher auf kurzer Distanz im Kampf. Je nachdem, wie ich skille, werde ich mit einem der Waffentypen immer mächtiger. Natürlich kann man auch in beide Richtungen skillen, aber das macht in meinen Augen weniger Sinn, weil die Effekte auch skalieren, je mehr man in eine Richtung investiert. Dazu kommen verschiedene Schadenstypen (Feuer, Eis, Blitz, Nekrose), denen natürlich Gegnertypen mit Schwächen und Resistenzen gegenüberstehen. Das Tolle am Skillsystem: Man kann problemlos und kostenfrei jederzeit umskillen, um etwas anderes auszuprobieren. Ich habe Anfangs als Klingenmagier im Nahkampf gespielt, wollte dann aber mal mehr den Stab austesten und bin mit meinen Eiszaubern sehr zufrieden gerade. Natürlich macht das einmal getroffene Entscheidungen zur Charakterentwicklung obsolet und das mag nicht jedem gefallen, ich finde es aber ein angenehmes Feature zum Rumspielen. Das Kampfsystem erinnert stark an Mass Effect: Ich habe zwei Begleiter dabei, die selbstständig kämpfen, denen ich aber auch Befehle erteilen kann. Sowohl ich als auch die Begleiter haben eine Auswahl an 3 Fähigkeiten, die man einsetzen kann und ganz wie in Mass Effect kann man den Kampf pausieren und die einzusetzenden Fähigkeiten auswählen. Hier kommt es dann auf die richtige Kombination der Begleiter an, denn es gibt Fähigkeiten, die Zustände beim Gegner auslösen (beispielsweise "überwältigt") und Fähigkeiten, die zu jeweils einem solchen Zustand "Detonationen" auslösen, das heißt Zusatzschaden machen, wenn man einen Gegner im entsprechenden Zustand damit angreift. Ansonsten sind die Kämpfe schnell, actionreich und teilweise auch (für mich auf mittlerem Schwierigkeitsgrad) recht knackig. Natürlich wird das irgendwann ein bisschen repetitiv, aber ganz ehrlich: Das ist in den meisten Spielen so. Das war in Dragon Age Origins so, das war in Mass Effect so, das war im Witcher so und das war auch in BG3 so. Gewisse Muster wiederholen sich einfach. Als störend empfinde ich das nicht, da man mit der Zeit immer mal wieder neue Mechaniken freischaltet.
Dialoge, Moralsystem, Story, Writing allgemein: Vorneweg gleich mein größter Kritikpunkt am Spiel: Das unsägliche Dialograd. Warum sie das immer noch für eine gute Entscheidung halten, bleibt mir ein Rätsel. Ich möchte verdammt nochmal vorher vernünftig sehen, was mein Charakter sagen wird und es nicht raten müssen. Das ist hier leider teilweise (und für meinen Geschmack deutlich zu oft) der Fall. Dazu kommt eben, dass man als Rook nicht wirklich böse sein kann. Man ist nett, mittelnett und ruppig nett. Und es ist immer klar, was wie gemeint ist. Ab und zu kann man mal eine arschige Antwort geben. Mich persönlich stört das wie schon kürzlich geschrieben nicht, denn ich spiele nie den Bösen, weil mir das keinen Spaß macht. Man sollte es aber vorher wissen. Ansonsten sind die Dialoge aber in der Regel mindestens solide, oft aber auch gut geschrieben. Das ist kein Meisterwerk der Schreibkunst, aber kann sich durchaus sehen lassen. Manche Dialoge lassen auch wirklich das alte Bioware-Gefühl hochkommen, dass man mit einem kleinen Kloß im Hals vorm PC sitzt. Und ganz ehrlich: Auch das ist sehr viel "altes Bioware", denn auch in Mass Effect saß nicht jeder Dialog. Es muss in Summe stimmen und das tut es hier. Zumal ja gerade das Writing im späteren Spielverlauf nochmal aufdrehen soll. Die Story ist bislang gut, es gibt einige sehr düstere Momente, die einen daran erinnern, dass man hier ein Dragon Age spielt, und es wird auch teilweise ein hoher Blutzoll gezahlt, der auf eigenen Entscheidungen beruht. Im großen und ganzen ist das aber eher leichtfüßig erzählt, da fand ich den Vergleich von Heiko Klinge im Gamestar-Podcast ganz passend: The Veilguard ist wie Ted Lasso, denn es werden ernste Themen verhandelt, ohne einen runterzuziehen, sondern es schwingt immer eine Positivität mit. Auch das ist Geschmackssache und sollte man vorher wissen. Ist das deswegen noch Dragon Age? Ich finde schon, denn die Welt ist die gleiche, die Story ist ausreichend düster und dramatisch. Zugegeben, mein eigener Charakter bleibt flach und wachsweich, dafür gewinnen aber die anfangs sehr platten Begleiter mit zunehmender Spieldauer an Tiefe, da alle ihren eigene Kampf austragen und ihr Päckchen mit sich tragen. Hier finde ich sogar, auch wenn ich noch bei keinem sehr stark in die Tiefe gekommen bin, dass sich Bioware am meisten weiterentwickelt hat. Nicht, dass die Charaktere insgesamt besser geschrieben wären als früher, aber sie haben eine andere Tiefe.
Design: Zum Grafikstil hatte ich schonmal was geschrieben. Der ist in sich stimmig und am Ende Geschmackssache. Es sieht halt aus wie ein Animationsfilm. Ich finde es sehr gelungen und stilsicher. Die Welt ist dazu wunderschön gestaltet, es gibt wirklich fantastische Panoramen, sie ich so schon lange nicht mehr in einem Spiel hatte. Auch in den Details ist das wirklich hübsch gemacht und gut gelungen. Das Leveldesign ist so, wie man es vom alten Bioware kennt: Größtenteils haben wir hier Schlauchlevel, die einen durchs Spiel führen. Man kann sich in diesen Arealen nicht verlaufen, was dem Spieler einerseits Denkarbeit abnimmt, andererseits aber auch dazu führt, dass Kämpfe oft besser inszeniert sind, als sie es in den Open World-Biowares waren. Apropos Open World: Ein bisschen was zum Erkunden bietet das Spiel schon, denn es gibt ein paar größere Areale, in die man nach abgeschlossener Hauptquest in dem Gebiet zurückkehren kann. Da gibt's dann auch einiges zu entdecken, ohne aber jetzt den ganz großen Wow-Effekt zu erzielen. Das machen andere Spiele definitiv viel besser. Wirklich lohnen tut sich die Erkundung auch nur selten. Und dazu viel zu viele "Rätsel". Die im Grunde meistens keine echten Rätsel sind, weil die Lösung auf der Hand liegt. Das ist jetzt nicht nervig oder so, aber halt einfach auch zu inflationär eingesetzt, je nachdem, in welchem Areal man sich befindet. Insgesamt fühle ich mich da aber schon sehr an Origins oder Mass Effect erinnert, was sich sowohl wohlig vertraut als auch etwas aus der Zeit gefallen anfühlt. Immerhin aber nicht so veraltet wie Starfield. Insgesamt würde ich hier sagen: Ist okay, hat einige klare Stärken, aber auch deutliche Schwächen.
Ihr merkt vielleicht schon, worauf mein Fazit hinausläuft: Es ist eine Frage der Erwartungshaltung. Erwarte ich ein Spiel wie BG3 mit tiefgreifenden RPG-Mechanismen, manigfaltigen Lösungswegen und komplexer Charakterentwicklung (was selbst DA: Origins nicht hatte)? Dann werde ich von DA: The Veilguard enttäuscht sein. Erwarte ich ein toll inszeniertes "Soft-RPG" im Stile von Mass Effect und kann darüber hinwegsehen, dass ich nicht wirklich böse sein darf? Dann kann ich damit verdammt viel Spaß haben. Denn eines muss man hier wirklich festhalten: Die Produktionsqualität ist sehr hoch, das Teil ist super gut poliert und die Vorwürfe, die da (abseits von dem eingangs erwähnten Elefanten) an das Spiel gemacht werden, könnte man vielfach auch den alten Bioware-Spielen machen, die aber nach wie vor (zurecht) gefeiert werden. Ist das teilweise altbacken? Ja. Muss einem das gefallen? Nein. Gefällt es mir? Ja, definitiv und deswegen gibt's von mir eine klare Empfehlung. 60€ sind für ein neues Spiel mehr als fair und im Sale für 30 oder 20 Euro würde ich jedem, dem Mass Effect gefallen hat und der sich das als Fantasy-Spiel vorstellen kann, empfehlen, zuzuschlagen. Es ist: Popcorn-Gaming auf hohem Niveau.
So long.