Sommer 2059, Sheffield, EnglandUnseren Streit hört man wahrscheinlich noch in der Nachbarschaft.
"Wie kannst Du denn einfach alles hinwerfen und Dich verpissen?! Wo ist Deine Loyalität? Ohne Gianni und die Owls wärst Du immer noch ein winziges Licht irgendwo im Amateurfussball!"
"Ich hatte gedacht, dass Du Dich vielleicht für mich freust, nach allem, was ich für Dich getan habe!"
"Was Du für mich getan hast?! Andersrum wird wohl ein Schuh draus, Du undankbarer Bengel!"
"Bitte was?! Ich hör wohl nicht recht! Ohne mich wärst Du doch längst entlassen!"
Nach diesen - offensichtlich so nicht geplanten Worten - verstummt Lucas abrupt und starrt mich mit einer Mischung aus Schreck und Trotz an.
Ich brauche einen Moment, um das zu verdauen.
"Wie meinst Du das?", frage ich dann, langsam und leise.
"Vergiß es", murmelt Lucas, "das war ..."
"Nein nein, ich will das wissen. - Was soll das heißen, ich wäre ohne Dich längst entlassen?"
Mein Stiefsohn schluckt und schaut einige Augenblicke zu Boden.
"Als Du Sportdirektor und Kaderplaner wurdest ..."
"Jaaaa?"
Lucas holt tief Luft, bevor er mit leiser, fast unhörbarer Stimme fortfährt.
"...eigentlich wollte Verhaegen Dich kündigen. - Und ich hab ihm gesagt, dass er mich, wenn er das tut, gleich mitkündigen kann. ... Er wollte Dich dann eigentlich zum Technischen Direktor machen, aber plötzlich kam Scott mit seiner Ich-brauch-ne-Pause-Idee um die Ecke und ..."
Ich habe das Gefühl, als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen.
"Gianni wollte mich nicht mehr im Verein haben?"
"Naja, wie mans nimmt, er meinte jedenfalls, dass Deine Sturkeit und Deine 442-Obsession den Erfolg des Clubs gefährden. Sein Plan war, mich zum Cheftrainer zu befördern und Orlandoni zum Co - und Dich in den Ruhestand wegzuloben. Immerhin warst Du da schon fast 66 Jahre alt."
"Aber ... aber ... ich dachte, Verhaegen würde wertschätzen, was ich für Wednesday getan habe... und ..."
Mir versagt die Stimme und ich schüttele nur noch fassungslos den Kopf.
Lucas nickt mir zu.
"Tut er auch, tut er wirklich, das kannst Du mir glauben.
Aber Du mußt doch zugeben, dass Dein Beharren auf dem 442 nun wirklich schon obsessive Züge hatte und ..."
"Ich hab Titel mit der Formation gewonnen!", schnappe ich in einer plötzlichen Zornesaufwallung.
Einen Moment später - und nach Lucas' "Ja, vor zwanzig Jahren."-Erwiderung - seufze ich tief und nicke zustimmend. Mein Filius hat ja recht.
Und wenn ichs recht bedenke, hat er auch bezüglich des Wechselangebots die richtige Entscheidung getroffen.
Sollte ich ihm wohl besser auch sagen....
Jetzt bin ich es, der erst nochmal tief Luft holen muß.
"Ich freu mich für Dich, ernsthaft. Das ist eine der renommiertesten Adressen im Clubfussball. Und wenn Du dort auch nur halb so gut in der Talententwicklung bist wie hier in Sheffield, bauen sie Dir nach einem Jahr ein Denkmal. - Weiß Verhaegen schon, dass Du wechselst?"
Lucas nickt. "Ich habs ihm vorhin gesagt."
"Wie hat er reagiert?"
"Scheint ihn getroffen zu haben, er hat kein Wort gesagt."
"Hm. - Wann gehts für Dich los?"
"In sechs Stunden geht der Flieger von Manchester. Genaugenommen hast Du mich fast im letzten Moment erwischt, ich wollte eigentlich nur schnell die Tasche packen und ..."
"... und dann heimlich verschwinden, ohne mir auch nur ein Sterbenswort zu sagen, oder was?" Das ist Vickys Stimme. Einen Moment spöter tritt sie ins Zimmer. "Hattest Du ernsthaft vor, Dich heimlich zu verdrücken?!" Sie wirkt entrüstet.
"Mama! Wie kannst Du sowas denken! Natürlich nicht. Außerdem bin ich morgen sowieso wieder da, es geht nur um die Vertragsunterschrift und ein paar weitere Formalitäten.
"Mhm." Vicky nickt, aber komplett überzeugt ist sie nicht.
Bevor irgendwer das Thema vertiefen kann, klingelt mein Telefon.
"Lavayeux?"
"Gerard? Gianni hier. Kannst Du bitte mal in mein Büro kommen?"
"Ähm ... heute ist Dienstag, Gianni, ich hab frei. - Ich mach mich gern auf den Weg, aber das dauert einen Moment."
"Ja, danke, es wäre wirklich wichtig."
Nachdem ich aufgelegt habe, stelle ich fest, dass Lucas während des Telefonats den Raum verlassen hat. Klar, er hat es ja auch eilig...
Vicky dagegen ist noch da - und sie schaut mich mit diesen klugen, warmen Augen an, die ich so an ihr liebe.
"Verhaegen?"
"Ja, er will mich im Büro sehen, warum auch immer."
"Wir wissen beide, warum."
Ich zucke mit den Schultern schaue sie fragend an.
"Dann erleuchte mich, ich tappe im Dunkeln."
"Der Cheftrainer geht und Du stehst noch auf der Payroll. Er wird Dich zumindest um einen Gefallen für die Übergangszeit bitten."
"Kann er vergessen. Ich arbeite nur noch Teilzeit und bin außerdem seit einem Jahr raus aus dem Job und ..."
"... und tigerst an Deinen freien Tagen ruhelos durchs und ums Haus und raubst mir den letzten Nerv. Es war vermessen von mir, Dich von Deiner Sucht heilen zu wollen, Gerard. - Versprich mir nur eins: egal, wie, wir werden wenigstens einen Tag pro Woche nur für uns beide haben. Da ich inzwischen im
Ruhestand bin," oh wie geschickt sie doch darin ist, dieses Wort zu betonen, "ist mir völlig egal, welcher das jeweils ist. Aber ein Tag pro Woche gehört uns."
Ich nicke, während ich mit drei langen Schritten zu ihr eile und sie in die Arme schließe.
Der Kuß kommt beiderseits von Herzen.
Als ich mich gerade aufs Rad schwingen und zum Vereinsgelände fahren will, tritt Lucas aus dem Haus.
Ich lehne den Drahtesel rasch nochmal an die Hauswand, eile zu ihm und umarme meinen Sohn.
"Ich bin verdammt stolz auf Dich", raune ich ihm zu. "Verzeih einem alten Grummelkopp, dass er eine Weile gebraucht hat, um die Neuigkeit zu verdauen, in Zukunft ohne Dich auskommen zu müssen."
"Du hast das dreißig Jahre lang allein gepackt, Dad. - Und außerdem hast Du ja meine Telefonnummer, wenn Du Hilfe brauchst."
Grinst, zwinkert mir zu und steigt in das wartende Taxi ein, das ihn zum Flughafen bringen wird.
Der Filius arbeitet ab 01.07. auf dem Kontinent.
Und in der Champions League.
NEID!
Und ich schnappe mir das Rad ein zweites Mal und strampele mich ab, um quer durch die Stadt zum Hillsborough zu fahren.
Während ich vor mich hin keuche, geht mir durch den Kopf, dass ab dem ersten Juli für Vater und Sohn gewissermaßen eine neue Zeitrechnung beginnt.
Eine Änderung, die bis vor kurzem noch nicht absehbar war.
Wobei - das ist der zweite Gedanke, der mir durch den Kopf geht - dass Lucas das Interesse von größeren Fischen auf sich ziehen würde, war eigentlich unvermeidlich.
Gerade die Rückrunde der abgelaufenen Saison war ja genaugenommen nichts anderes als ein überdeutliches Bewerbungsschreiben für höhere Aufgaben.
Meine Füße strampeln und meine Gedanken schweifen zurück...
Das Jahr beginnt eher ungemütlich.
Das liegt nicht nur am nasskalten Sheffielder Winterwetter, sondern vor allem auch daran, dass wir als allererstes nach Bradford müssen.
Und nachdem wir dort böse eins auf die Nase bekommen haben, zeigt uns Leicester im ersten Hillsborough-Spiel des neuen Jahres, dass wir doch irgendwie zurecht zu den schwächsten Teams der Championship gerechnet werden.
Nur gut, dass wir direkt danach ein weiteres Heimspiel haben - und mit dem weit abgeschlagenen Tabellenletzten Birmingham City auch noch einen eher dankbaren Gegner vor der Brust.
Lucas hält weiterhin am 4231 fest, das zwar nicht ideal funktioniert, aber dennoch meist für eine gewisse defensive Stabilität sorgt.
Und auch wenn der Sieg erst tief in der Nachspielzeit durch einen Glücksschuß des eingewechselten Earl sichergestellt werden kann - verdient war der allemal.
Da wir uns direkt danach bei Arsenal ein nicht unverdientes 0:0 erkämpfen und im Anschluß Peterborough dank eines Beaston-Geniestreichs (zwei Körpertäuschungen, ein Antritt, ein Schuß, ein Tunnel, ein Jubelschrei) knapp, aber unverdient mit 1:0 schlagen, sind wir, wie Lucas in der Kabine scherzhaft bemerkt, "auf dem besten Wege zu einer schönen Ungeschlagen-Serie".
Seine Jungs können mit der leisen Ironie seiner Aussage allerdings nur wenig anfangen und starten eben diese Serie.
In Sunderland, im FA Cup, kämpfen sie sich nach 0:2 spät zurück und retten sich ins Widerholungsspiel, in Watford kämpfen sie sich nach 0:2 spät zurück und retten einen Punkt ... und im Wiederholungsspiel gegen Sunderland drehen sie nach frühem Rückstand völlig frei und schießen den Favoriten schlußendlich völlig verdient mit 5:1 (!) aus dem Stadion und aus dem Pokal.
Danach folgen drei minimalistische Siege gegen Blackburn, Charlton und Birmingham ...
... nur das 0:1 bei Brighton & Hove stört den positiven Gesamteindruck des Monats.
Der März beginnt mit einer erwarteten Heimniederlage: gegen Brentford können wir nur einmal ausgleichen, den weiten Rückstand zu egalisieren, will uns einfach nicht gelingen.
Dafür ballern wir den Drittligisten (!) Shrewsbury, der sensationell in der 5. Hauptrunde des Pokals steht, mit 4:0 aus unserem Stadion - Viertelfinale!
Beim Tabellendritten Hull verlieren wir durch ein spätes Tor knapp, aber verdient mit 0:1 und verlieren die Playoffränge langsam aber sicher endgültig aus den Augen.
Das sorgt allerdings paradoxerweise dafür, dass unsere Leistungen wieder besser werden.
Leidtragende: Zunächst mal West Ham United. Wobei es nach einer halben Stunde eigentich so aussieht, als ob wir einem Debakel entgegensteuern, denn zu diesem Zeitpunkt liegen wir mit 0:3 hinten.
Lucas stellt von 4231 auf 4411 um - und plötzlich kommen wir besser ins Spiel.
Potter erzielt noch vor der Pause den ersten Treffer, Valero kurz nach dem Pausentee den Anschluß.
Die Gastgeber werden zunehmend nervös, währen die Owls von Minute zu Minute stärker auf den Ausgleich drängen.
Der fällt dann in der 76. Minute durch das erste Tor von Winterzugang Boyland, der seit Januar unser defensives Mittelfeld verstärkt.
Damit nicht genug: Potter schnürt kurz vor Spielende den Doppelpack und besiegelt damit eines der spektakulärsten Comebacks der Owls.
Solcherart motiviert, knöpfen wir auch Playoffaspirant Bournemouth einen Punkt ab, bevor es zum Monatsabschluß ein absolutes Highlight im Hillsborough gibt:
FA Cup, Viertelfinale, gegen den Tabellenführer der Premier League. Rotherham United!
Die Gäste sind seit Jahren Teil der Creme de la Creme des englischen Fussballs und auch in dieser Saison wieder das Maß aller Dinge.
Wie sie Beaston über 90 Minuten aus dem Spiel nehmen sollen, fällt aber auch ihrer Fabelabwehr nicht ein - und so wird er zum gefeierten Matchwinner, indem er kurz vor der Pause zwischen beiden Innenverteidigern hindurchwuselt, Valeros genau im richtigen Moment vor ihm auftropfenden Steilpaß mit der Fusspitze über den heraustürzenden Torwart streichelt und schon zum Jubeln abdreht, bevor der Ball von der Unterkante der Latte ins Tor trudelt.
Der Rest des Spieles ist eine defensive Meisterleistung der Owls.
FA Cup, Halbfinale - und wir sind dabei.
Und noch besser: die anderen drei Mannschaften heißen: Crystal Palace, FC Liverpool ... und Sheffield United!
Ganz Sheffield drückt die Daumen für ein Derby im Halbfinale ... aber am Ende müssen die Blades nach Liverpool und wir zu Palace.
Schade, schade, schade - es wär zu schön gewesen, nach viel zu vielen Jahren mal wieder ein Pflichtspielderby gegen den Erz- und Stadtrivalen bestreiten zu können.
(Dass beide Sheffielder Clubs ihre Auswärtsspiele gewinnen, glauben nicht mal die kühnsten Optimisten.)
Im April erzielt Luca Beaston sieben Tore in sechs Pflichtspielen - und dennoch ist es ein äußerst frustrierender Monat.
In Fulham führen wir dreimal und kassieren in der 92. Minute zum dritten und letzten Mal an diesem Tag den Ausgleich.
Gegen Wrexham führen wir bis zu 87. Minute, gegen Swansea bis zu 84., gegen Bristol reicht uns selbst eine Zwei-Tore-Führung nicht.
Immerhin schlagen wir den Sechstplatzierten Leeds auswärts mit 5:1.
Und zum Monatsabschluß gibt es bei Crystal Palace nichts zu holen: uns gelingt erst beim Stand von 0:3 ein Tor... und es bleibt leider das einzige.
(Liverpool setzt sich zuhause gegen Sheffield United durch.)
Im Mai gibt es nur noch zwei Spiele, die wir beide verlieren - auch, weil die Mannschaft inzwischen auf dem Zahnfleisch kriecht.
Meister und Wiederaufsteiger Huddersfield sowie Tabellennachbar Crewe Alexandra sind in dieser Verfassung einige Nummern zu groß für uns ...
Beim Blickauf die Abschlußtabele überkommt uns eine Mischung aus Stolz und Enttäuschung.
Stolz, weil Platz 12 einfach mal grandios ist.
Und Enttäuschung, weil wir ohne die viermaligen späten Ausgleichstore 8 Punkte mehr und eine um vier bessere Tordifferenz gehabt hätten.
Und da wir mehr Tore geschossen haben als Leeds United, hätte das die Teilnahme an den Aufstiegsplayoffs bedeutet!
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Wenige Minuten später radele ich aufs Vereinsgelände und weitere zwei Minuten später stehe ich in Verhaegens Büro.
Der Präsident beginnt mit einer weitschweifigen Ausführung und schaut ziemlich verdutzt, als ich ihn relativ schnell unterbreche.
"Auch wenn ich eigentlich sauer sein sollte, weil Du mich aus dem Club werfen wolltest .... ich nehme das Angebot, als Trainer zurückzukehren, an - unter einer Bedingung:
Egal wie, ein Tag pro Woche ist frei. Notfalls übernimmt dann eben der Co-Trainer."
Gianni blinzelt, nickt schließlich und hält mir die Hand hin.
"Deal."