Frühjahr 2056, Sheffield, England"Herr Lavayeux, Hand aufs Herz: wie sehr schmerzt Sie diese Degradierung angesichts Ihrer Verdienste um den Verein?"
Dieser schmierige Aushilfstintenkleckser geht mir gehörig auf den Wecker!
Aber ich werde ihm nicht die Genugtuung verschaffen, mich explodieren zu sehen - da kann er provozieren, so viel er möchte, der Arsch. Ich heißt ja nicht Zinedine und er nicht Marco. Und ich hab auch keine Glatze und das ist auch nicht das WM-Fi.... ich unterbreche meinen Gedankengang, als mir auffällt, dass er mir noch immer das Mikro unter die Nase hält.
"Wovon sprechen Sie, Herr Hudson? Welche Degradierung meinen Sie?"
"Na Sie wollen doch wohl nicht behaupten, dass die dauerhafte Abkehr der Owls von Ihrem geliebten 442 Ihren Beifall findet?
Es ist doch offensichtlich, dass Sie in der Trainerhierarchie des Vereins nur noch die zweite Geige spielen und Ihr Stiefsohn das Zepter in die Hand genommen hat. Höchst erfolgreich, wie ich anmerken möchte."
Ach, DAHER weht der Wind!
Ich kann mir ein süffisantes Grinsen nicht ganz verkneifen, während ich im liebreizendsten mir zu Gebote stehenden Ton antworte:
"Werter Herr Hudson, Sie folgen der Entwicklung des Vereins doch nun schon einige Jahre. Man könnte gar von VERfolgen sprechen - jedenfalls wenn es um Ihre fixe Idee geht, dass Lucas und ich etwas anderes sind als ein eingespieltes, vertrauensvoll zusammenarbeitendes Team.
Ihnen sollte doch inzwischen aufgefallen sein, dass mein geliebtes 442, wie Sie es auszudrücken belieben, nur EINE Option unseres taktischen Arsenals darstellt. Und wenn unsere Analysen vor einem Spiel ergeben, dass eine andere Formation besser geeignet ist, dann wählen wir diese andere Formation.
Das halten wir seit unserem Amtsantritt so - und das wird auch so bleiben."
"Aber wieso ist denn das 442 plötzlich nur noch so selten geeignet, wo es doch in den vergangenen Saisons fast immer zum Einsatz kam?"
Ich schüttele nachsichtig den Kopf.
"Herr Hudson, ich weiß, dass Sie meinen Sohn und mich nicht sonderlich mögen und dass Ihre Vereinsbrille nicht die Farben der Owls, sondern die der Magpies trägt, aber ich bin doch überrascht, dass Sie eine dermaßen, mit Verlaub, laienhafte Frage stellen. Das 442 stößt gerade in jenen Situationen an die Grenzen, wo der Gegner auf allen Positionen, insbesondere aber im zentralen Mittelfeld, qualitativ besser besetzt ist - und es ist ganz besonders dann ungeeignet, wenn der Gegner zudem noch in einem Dreiermittelfeld aufläuft.
Und wie Sie selbst in Ihrer Saisonvorschau mit so drastischen Worten prognostizierten, war Sheffield Wednesday in der gerade zuende gegangenen Saison doch mit weitem Abstand der wahrscheinlichste Direktabsteiger.
Bringen Sie diese beiden Informationen zusammen und Sie haben Ihre Antwort.
Und falls Ihnen das zuviel Arbeit sein sollte, lege ich Ihnen Steven Shortknifes exzellentes Essay 'the centre midfield in modern football' ans Herz, da wird genau diese Problematik sehr strukturiert und auch für Laien gut verständlich dargelegt. Guten Tag."
Damit lasse ich einen konsterniert dreinblickenden Newcastle-Observer-Reporter namens Frank Hudson stehen und gehe in die Kurve, um mit Mannschaft, Team und Fans zu feiern.
Während wir wieder und wieder die Vereinshymne schmettern, Autogramme am Fließband schreiben und unzählige Hände schütteln, lass ich diese leicht surreal erscheinende Saison in Gedanken Revue passieren.
Dabei sah es kurz nachdem die Reporter und -innen ihre Saisonprognosen abgegeben hatten, kurzzeitig extrem duster aus - denn in einem der ersten Spiele krachte unser Abwehrchef Jonathan Tear bei einem Defensivzweikampf dermaßen unglücklich gegen den Pfosten, dass er sich dabei den Unterschenkel brach und bis weit ins neue Jahr hinein nicht mit seiner Rückkehr zu rechnen sein würde.
Nur gut, dass wir in der Abwehr breit aufgestellt waren - kein Wunder, hatten wir doch gemessen an unseren generellen Finanzen eine Einkaufstour vom Allerfeinsten hingelegt.
'Hach ja, die Finanzen!', schießt es mir durch den Kopf. 'Einerseits jonglieren wir hier mit Summen, die in meiner bisherigen Karriere wahrscheinlich nur mit Metz vergleichbar sind, andererseits sind wir damit im Ligavergleich arm wie die Kirchenmäuse...'
Denn während Ligakrösus Gillingham mit über 20 Millionen Gehaltskosten arbeiten kann oder der FC Portsmouth zweistellige Millionenablösen auf den Transfermarkt wirft ...
... hatten wir insgesamt grade mal reichlich 3,5 Millionen Gehaltsausgaben zur Verfügung ... von denen wir sicherheitshalber nur 2 Millionen für Spieler ausgaben und den Rest lieber in die Trainer und Betreuer steckten, weil wir nur einen einzigen Weg sehen, wie wir finanziell vernünftig arbeiten können:
Talente ausbilden, teuer verkaufen und/oder Weiterverkaufsklauseln reinverhandeln.
Der übliche Weg kleiner, klammer Vereine also.
Dass wir gleichzeitig als eindeutig schwächster Verein in der Liga eben diese Klasse zu halten gedachten, kam noch erschwerend hinzu.
Meine Gedanken schweifen durch die Saison.
In den Pokalwettbewerben war uns ja bereits vor dem ersten Anpfiff klar, dass eine Wiederholung des Wahnsinnslaufs im FA Cup sehr unwahrscheinlich sein würde.
Am Ende konnten wir uns leider sogar noch schneller auf die Liga konzentrieren als befürchtet, denn in allen Wettbewerben waren wir noch vor dem Jahreswechsel ausgeschieden.
Was aber natürlich zu verschmerzen wäre, wenn die Liga besser liefe.
In der Sky Bet League One gibt es jedes Jahr vier Absteiger - also war unser Ziel, mindestens vier Teams hinter uns zu lassen.
Hartlepool, Southend und Ebbsfleet schienen machbar, wenn man den Buchmachern glaubte - aber alles darüberhinaus würde schwierig.
Die Hoffnung lautete also, dass irgendeines der Mittelfeldteams vielleicht eine katastrophale Saison erwischt und uns den Klassenerhalt ermöglicht.
Und mit dieser Einstellung - "wir sind nicht komplett chancenlos, es wird einfach nur eine titanische Aufgabe." - stürzten wir uns in die erste Drittligasaison seit ewigen Zeiten.
Mit Coventry FC , AFC Wimbledon, Notts County und dem Blackpool FC hatten wir ein Auftaktporgramm erwischt, das es in sich hatte: alle diese Teams wurden mindestens in der oberen Tabellenhälfte erwartet. Und danach wurds nicht besser!
Shrewsbury Town, die Bolton Wanderers, die "Ausnahme" Ebbsfleet United, danach der Portsmouth FC sowie Aufstiegstopfavorit Gillingham FC ...
... 'wenns richtig blöd läuft', dachten wir, 'haben wir nach neun Spieltagen ein, zwei Pünktchen auf dem Konto und das rettende Ufer ist schon eine Siegesserie entfernt.'
Indes, es kam ein bißchen anders als erwartet.
In den meisten der genannten Spiele waren wir knapp unterlegen oder gar ebenbürtig, wir punkteten in ganzen sechs (!) dieser Anfangsspiele und spätestens als wir am 10. Spieltag im Auswärtsspiel gegen Walsall einen fulminanten 4:1-Auswärtssieg herausspielten, dämmert auch dem letzten Vereinsangestellten, dass der Klassenerhalt zwar weiterhin eine sehr schwierige, aber durchaus machbare Aufgabe darstellt.
Wir leisteten uns zwar einige grauenvolle Spiele (wie das indiskutable 1:6 bei Grimsby Town oder das nicht minder enttäuschende 0:5 zuhause gegen den Chesterfield FC) und zwei längere Negativserien (zwischen Ende Oktober und Mitte Dezember holten wir aus acht Spielen ganze 4 Punkte und verlieren sechs mal, im Januar wiederholten wir dieses Kunststück mit der exakten Ausbeute (6 Niederlagen, 1 Unentschieden, 1 Sieg) und schafften es sogar, zuhause gegen den bereits abgeschlagenen Tabellenletzten Hartlepool United glatt mit 0:3 unterzugehen, aber als das Wintertransferfenster schloß und etwa zwei Drittel der Saison gespielt waren, ergabt sich für die Owls-Anhänger ein unerwartet erfreuliches Bild:

Das besagte Winterfenster wurde von uns nicht ganz freiweillig zur Finanzaufbesserung genutzt - O'Donnell, Hughes und Lakeland verliessen jeweils für knapp siebenstellige Ablösen den Verein, nachdem klar wurde, dass keiner dieser Spieler an einer Verlängerung zu bezahlbaren Konditionen interessiert ist.
Es gilt noch immer, dass die absolute Obergrenze beim Grundgehalt etwa bei 75.000 Pfund pro Jahr liegt, die inklusive Prämien für eine Handvoll Schlüsselspieler auf maximal 100.000 Pfund anwachsen darf.
Als unser mit Abstand bester Spieler Colm O'Donnell also schlappe 450.000 Pfund Grundgehalt und eine Ausstiegsklausel von 1.2 Millionen Pfund zur Grundbedingung machte, um überhaupt mit uns zu reden, fand er sich von einem Tag auf den anderen auf der Transferliste wieder.
Am Ende schlug der spanische Zweitligist Real Oviedo für fast 3 Millionen Pfund zu und wir hatten ein dickes Loch in der Mannschaftshierarchie, war O'Donnell doch einer der unbestrittenen Leader im Team.
Auch das ist natürlich einer der Gründe für den unterirdischen Januar...
Als Ersatz für O'Donnells Position im offensiven Mittelfeld und Sturm holten wir von Derby County einen jungen Engländer namens Gary Holder, der zwar talentiert ist, aber nicht an den mit Millionengehältern ausgestatteten Platzhirschen im Derbysturm vorbeikam. Kosten: 39.000 Pfund.
Dazu ersetzten wir den abgewanderten Rechtsaußen Lakeland mit Richard Farragher vom Shelbourne FC, der uns auch "nur" 180.000 Pfund kostete.
Rein finanziell war das Winterfenster also ein voller Erfolg, was der Kaderumbruch sportlich bedeutet, blieb abzuwarten.
An den Journalistenerwartungen hatte sich erstaunlicherweise wenig geändert - außer dass wir nur noch Hartlepool United als etwa gleichstark (oder -schwach) ansehen sollten, alle anderen hatten kräftig investiert, um ihre Ziele eventuell doch noch zu erreichen.
Und manche Vereine in England scheinen beim Investieren inzwischen jedes Maß verloren zu haben.
So wurden Manchester City, Nottingham Forest, Norwich City, Derby County und einigen anderen Vereinen im Laufe der Saison Strafen von bis zu 12 (!) Punkten Abzug aufgebrummt, weil sie völlig überschuldet waren und unter Aufsicht gestellt werden mußten.
Zu den "anderen Vereinen" gehört übrigens auch Newcastle United ... was vielleicht einer der Gründe ist, warum Frank Hudson im Laufe des Frühjahrs stetig schlechtere Laune spazierentrug...
Konnte und mußte uns natürlich egal sein, wir standen finanziell jedenfalls gut genug da, um uns aufs Sportliche zu konzentrieren.
Mit den jungen Alan Leddy (Außenverteidiger links), Leonardo (Außenverteidiger links), und Earl (komplette Außenbahn rechts) zogen wir drei talentierte Jungspunde immer wieder mal in die Erste hoch und zumindest Leonardo und Earl spielten sich im Laufe des Frühjahrs mehr oder minder in der Seniorenmannschaft fest, überzeugten dabei immer wieder mit guten Leistungen ... und "unser" Brasilianer Leonardo (der im Alter von fünf Jahren mit seinen Eltern nach Sheffield kam und seit seinem 9. Lebensjahr bei Wednesday spielt!) wurde nach und nach zum Trainingsvorbild für die ganze Mannschaft.
Es ist einfach erstaunlich, mit wie viel Ehrgeiz und Gewissenhaftigkeit der junge Defensivspezialist an seinem Spiel und seiner Körperlichkeit arbeitet.
Als der "Seuchenmonat" Januar vorüber war und unser Langzeitverletzter Jonathan Tear langsam wieder ins Aufbautraining einstiegt, gab das der ganzen Mannschaft offenbar einen Schub und wir starteten einen regelrechten Lauf:
Wir verloren nur noch zwei Mal (beim designierten Aufsteiger Chesterfield setzte es erneut eine herbe Niederlage, diesmal allerdings "nur" 1:4 ... und beim Tabellennachbarn Coventry City hatten wir auch nichts zu melden), holten ansonsten noch 5 Unentschieden und sechs (!) Siege, was uns rein rechnerisch bereits am 42. Spieltag den Klassenerhalt bescherte.
Der schlußendliche 13. Rang ist ein dickes fettes (wenn auch etwas glückliches) Ausrufezeichen - und wir konnte uns damit bereits im April daranmachen, die neue Saison vorzubereiten.
Einen sehr dicken Wermutstropfen hält die Saison dann aber ganz zum Schluß leider noch noch bereit.
Unser dienstältester Mitarbeiter Paul Harmston beschließt, dass es jetzt endgültig reicht mit der Karriere als Fussballvereinsmitarbeiter.
Er war lange Fitnesstrainer im Nachwuchs, nach einer Knieverletzung sattelte er auf Scout um und leistete auch da hervorragendes.
Als der Stadionsprecher beim letzten Heimspiel Harmstons Abschied zum Saisonende verkündet, bin ich zunächst verwundert - ist es doch eher ungewöhnlich, dass ein Scout auf solche Art geehrt wird.
Dass das gesamte Stadion daraufhin spontan "you'll never walk alone" für den gebürtigen Liverpooler singt und minutenlang ohrenbetäubend laute "Paul Harmston"-Sprechchöre durchs Rund hallen, läßt mir die Kinnlade runterklappen.
Sportdirektor Day, der neben der Ersatzbank steht und inbrünstig mitsingt, erklärt mir später, dass Harmston seit 2015 (!!!) im Verein tätig war - also ungeheuerliche einundvierzig Jahre lang - und unter den Fans als inoffizielles Clubmaskottchen gilt.
Die (also die Anhänger) singen übrigens so lange, bis der künftige Ex-Mitarbeiter sichtlich ergriffen von dieser augenscheinlich unerwarteten Respekts- und Liebesbekundung eine Ehrenrunde durchs Stadion gedreht hat.
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Meine Gedanken kehren in die Gegenwart zurück.
Unsere ausgelassene Feier mit dem Auswärtsblock ist in vollem Gange, während ein bedröppelter Newcastle-Anhänger mit ausgeschaltetem Mikrophon und hängendem Kopf von dannen schleicht - er hat gerade erfahren, dass Newcastle United die Saison aufgrund eines weiteren Punktabzugs als 17. und damit nur einen Punkt vor dem ersten Abstiegsrang beenden wird. Und es gehen Gerüchte um, dass die nahöstlichen Besitzer des Vereins aufgrund dieser unerfreulichen Bilanz über den Rückzug aus dem Club nachdenken.
Angesichts der prekären Finanzlage der Magpies käme das möglicherweise einem Todesurteil gleich...
Ich zucke die Schultern.
Investoren im Fussball haben nicht nur gute Seiten.
Das weiß jeder aufmerksame Fussballinteresiserte seit vielen Dekaden.
Wer sich dennoch auf solche Finanzierungsmodelle einläßt, weiß um die Risiken.
Wednesday jedenfalls - soviel steht fest - steht auf sehr sicheren Füßen und wird auch nächste Saison in der SkyBet League One antreten dürfen.
Wie genau der Kader dann aussieht, muß man, wie gewöhnlich, abwarten.
Nach dieser Saison 2056/57 steht uns, sofern nicht noch ein Wunder geschieht, ein hostorischer Umbruch ins Haus.
Nicht weniger als 14 Spieler sind nicht bereit, über vernünftige Anschlußverträge zu verhandeln.
Die Liste umfaßt dabei Kapitän und Publikumsliebling Rory Rooney genauso wie Torwartmagier Aaron Maylen, die Mittelfeldstrategen Bayleigh Bunney und Nikos Makrydimitris, die Stamminnenverteidiger Noel Shields und Godwin Oluwaniyi sowie Pokalkeeper Scott O'Neill.
Oh und Riesentalent Leddy natürlich auch....
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Am nächsten Morgen liegt wieder einmal das Buch (DAS Buch) auf dem Boden - diesmal ist die Seite mit Sir Charles jedoch unter den Schrank gerutscht, so dass nur die linke Buchseite mit dem Eintrag über einen der legendären Manager der Owls, Arthur Dickinson, zu sehen ist.
Seufzend stelle ich den Wälzer zurück ins Regal.
Wenn ich doch endlich dahinterkäme, was es mit diesem vermaledeiten Rätsel auf sich hat.
Das macht mich noch wahnsinnig!