Kapitel 1 – Gedankenverloren
Wir schreiben heute den 08.02.2018. Ein flüchtiger Blick auf meine Armbanduhr verrät, dass es bereits 11:20 Uhr ist. Es ist also soweit, es dauert nicht mehr lange und die weiter anrückenden Autos auf dem Parkplatz verdeutlichen dies. Es fühlt sich nicht echt an, viel eher ist es wie ein dahinschweben, so vollkommen surreal. Ich könnte ein Bild von diesem Gefühl malen und keiner würde es je interpretieren können, denn es gibt nichts, was meinen derzeitigen Zustand beschreiben könnte.
Jeder Gedanke in meinem Kopf, ähnelt den vom Himmel fallenden Schneeflocken, die lautlos auf meiner Windschutzscheibe landen und langsam hinuntergleiten. Hast du mal versucht eine Schneeflocke zu fangen und mehrere Sekunden in deiner Hand zu beobachten, ohne dass sie ihre Form verändert? Genau so ergeht es mir mit meinen Gedanken. Sobald ich versuche verstehen zu wollen, was hier gerade passiert, verflüchtigt sich alles. Es ist nicht greifbar, einfach unendlich weit entfernt.
Zwei Parkplätze neben mir kommt ein Lexus zum Stehen. Ein wirklich majestätisches Auto. Er ist schön gepflegt und die vom Himmel fallenden Schneeflocken, haben kaum die Chance, sich vom weiß polierten Lack farblich abzusetzen. Der Wagen strahlt förmlich - ganz im Gegensatz zu den austeigenden Personen. Traurige Mienen und schwarze Anzüge spiegeln den kompletten Kontrast zum Auto wieder.
Auch mein Anzug ist schwarz. Lediglich mein weißes Hemd, welches ich unter eine ebenfalls schwarze Weste gezogen habe, blitzt an den Ärmeln sowie am Kragen hervor. Es gibt keinen Grund für Farben, für auffällige Motive oder Extravaganzen. Dieser Tag gehört nur einer Person und alle Anwesenden dürfen sich im Hintergrund halten.
Das Gebäude, in welchem das letzte Zusammenkommen stattfinden wird, ist eigentlich mit einem türkisfarbigen Dach gesegnet, aber heute- heute wird es von der Welt in weiß gehüllt. Es erfüllt einen mit Anmut und Stille, diesen friedlich vom Himmel fallenden Schnee zu betrachten. Wenn eine weiße Taube für Frieden steht, so ist dieses Gebäude, ganz in weiß getauft, wohl der friedlichste Ort, an welchem ich je gewesen bin.
Ein letzter Blick in den Spiegel. Meine kurzen, dunklen Haare sitzen. Der einstige Drei-Tage-Bart ist zurechtgestutzt. Nichts soll heute das Bild ruinieren, wenn er hoffentlich meine Nähe spürt und sei es nur zum letzten Male. Meine braunen Augen strahlen nicht, sie glänzen. Die letzten Tage haben mich ein wenig in Mitleidenschaft gezogen, doch für den heutigen Tag, möchte ich die Sonne in meinem Herzen tragen, denn er verdient es, mit Wärme verabschiedet zu werden.
Ein letztes, tiefes Durchatmen. Ich spüre förmlich, wie sich mein Brustkorb legt und ein wenig Ruhe in meinem Körper Einzug erhält. Mit einer flüchtigen Bewegung wische ich die letzten Tränen, an meinem weißen Hemdsärmel ab und öffne die Autotür.
Ich spüre die Nervosität, die Unsicherheit, während ich den ersten Fuß in den Schnee setze. Alles ist neu. Nichts wird mehr sein wie zuvor und doch wird es weitergehen und so setze ich behutsam einen Fuß vor den Anderen. Die Türen sind bereits geschlossen und unzählige Fußspuren weisen den Weg zum Eingang. Der Parkplatz ist bis auf den letzten Platz zugeparkt mit Autos. Es gleicht einem Event, doch eigentlich, wäre nach mir gegangen, hätte all dies im kleinen Kreis stattfinden können.
Doch hier geht es nicht um mich. Es geht um meinen Vater. Er liebte es im Mittelpunkt zu stehen. Menschen mit seinen Worten in seinen Bann zu ziehen. Alle Blicke auf sich zu richten und triumphierend zu gestikulieren. Er war ein Macher, ein Held, ein liebender Vater, der bereit war alles für seine Kinder zu geben.
Es ist nicht mal zwei Wochen her, da schauten wir gemeinsam das Halbfinale vor dem Superbowl. Vater liebte American Football. Er sagte mir immer wieder, dass dies der einzige Sport für Männer sei. Es war ein ewiges Streitthema, denn ich liebte den Fußball, doch in Vaters Augen glich Fußball einem Frauensport. Er liebte die Zweikämpfe, wenn die Offensive-Line alles gab, um den eigenen Runningback durch die gegnerische Defensive-Line zu schicken. Die Hits, wenn der Quarterback gesackt wurde, ließen seine Augen strahlen und er verfluchte die neuen Regeln der NFL, welche harte Hits verboten. Das Krachen zweier Helme, durchzog seine Arme jedes Mal mit Gänsehaut und ich erinnere mich immer wieder gerne daran, wie ich jedes Mal zu schmunzeln begann, wenn er seine Finger vor Anspannung im Wohnzimmersessel vergrub.
Er liebte die Rams. Ob LA Rams, St. Louis Rams, er verfolgte jedes Spiel seiner heißgeliebten Mannschaft. Selbst geschäftliche Meetings hielt er nur in Restaurant ab, in welchen er Football gucken konnte und jeder respektierte es. Denn wenn ich eines über meinen Vater mit Gewissheit sagen kann, dann, dass ihn ein jeder mochte.
Unser letztes gemeinsames Footballspiel waren die LA Rams gegen die New Orleans Saints. Ich hielt den Saints die Daumen, denn ich mochte das junge, dynamische Team aus dem Süden und ihren alteingesessenen Leader Drew Brees. Nicht auch zuletzt, da New Orleans meine Geburtsstadt war. Außerdem war es immer wieder schön, sich mit Vater zu rivalisieren. Vater lag zu dieser Zeit bereits im Sterbebett, aber auch das hielt ihn nicht davon ab, die Saison zu Ende schauen zu wollen. Für diese paar Stunden waren wir wie zurückversetzt in unser Wohnzimmer. Ich ignorierte sämtliche Schläuche, die seinen Körper umgaben. Ich sah nur meinen Vater, wie er ein ums andere Mal Gänsehaut bekam, seine Fäuste ballte, sein Team anfeuerte. Es war, als würde das letzte bisschen Leben in ihm auflodern und er war bereit alles zu geben, um seine Rams nach vorne zu peitschen. Wann immer er konnte, er war im Stadion und sein sehnlichster Wunsch war es, die neue Arena noch einmal in LA bewundern zu dürfen, doch dieser Traum wurde ihm nicht erfüllt.
Letzten Endes ging das Spiel in die Verlängerung und die Rams konnten nach einem gescheiterten Spielzug der Saints, das Spiel für sich entscheiden. Ich sehe es immer noch vor mir, diesen Jubel, die Freude und Leidenschaft, die seinen Geist in dieser Sekunde des Triumpfes wieder zum Leben erweckte, es war, als wäre er nie erkrankt. Er packte meinen Arm, blickte mich mit strahlenden Augen an, während ihm eine Träne der Freude über die Wange lief und sagte:
„Mein Junge, dieses Jahr werden die Rams für mich das letzte Mal den Superbowl gewinnen!“Doch manchmal schreibt das Leben seine eigenen Geschichten. Ich hatte es mir mehr als alles andere auf der Welt für meinen Vater gewünscht, dass er mit einem Superbowlsieg seiner heiß geliebten Rams von dieser Welt treten darf. Jedoch verließ ihn die Kraft, einen Tag vor diesem denkwürdigen Spiel und als würden die Rams trauern, verloren sie das Finale gegen die New England Patriots.
Dieser Superbowl. Er ging als langweiligster Superbowl in die Geschichte der NFL ein. Mit 13:3 verabschiedeten sich beide Mannschaften aus dem Mercedes Benz Stadium und es machte fast den Eindruck, als hätten die Rams gespürt, dass es nichts mehr zu gewinnen gibt, denn ihr größter Fan, hatte noch vor diesem Spiel die Welt verlassen.
Erneut landete eine Schneeflocke in meinem Auge und ich wurde aus meinen Gedanken gerissen.
„Ethan, komm doch bitte rein, wir wollen beginnen.“ Es war meine Schwester.