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Autor Thema: Aus aktuellem Anlass: Was ist Heimat?  (Gelesen 4914 mal)

DocSnyder

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Re: Aus aktuellem Anlass: Was ist Heimat?
« Antwort #20 am: 29.Juli 2018, 08:51:01 »

Vielleicht nicht ganz zum Thema "was ist Heimat", aber zum mit angeschnittenen Thema "Integration":

einer meiner engsten Freunde ist mit mir in Süddeutschland geboren und aufgewachsen, verfügt über seinen Vater jedoch neben der deutschen auch über die schweizer Staatsbürgerschaft. Er lebt und arbeitet seit etwa zehn Jahren in Zürich, ist mit einer Deutschen verheiratet, seine Kinder sind dort zur Welt gekommen und haben die schweizer Staatsbürgerschaft. "Problem": die komplette Familie spricht kein schwizerdütsch sondern normales hochdeutsch.

Wahrnehmung bei Nachbarschaft, Arbeitskollegen, Kindergartenfreunden etc.: das sind Deutsche. Man wird in seiner jeweiligen Rolle akzeptiert, aber zum "wir" dazugehören, das hat er auch nach zehn Jahren noch nicht geschafft und wird es vermutlich auch nie schaffen. Eine etwas andere, zurückhaltendere Behandlung als "echte" Schweizer erfährt man einfach.

Ist das jetzt gleich Rassismus? Bestimmt nicht. Aber in einer gewissen Form eine Eigenart der menschlichen Natur scheint es zu sein. Zieht mal als Oberbayer nach Franken. Als Schwabe nach Baden. Man muss kein nicht-westeuropäisches Aussehen haben oder Deutsch mit Akzent sprechen, um irgendwo schon an erste Grenzen zu stoßen. Daher ist es völlig logisch, dass man mit "ausländischem Aussehen" oder "komischem Nachnamen" überall auf dieser Welt auf diese Grenzen stößt, je "exotischer" man aus jeweiliger Sichtweise ist desto schwieriger sind diese zu überwinden.

Das alles wird anscheinend aber gerne zu einem deutschen Problem gemacht. Ist es aber nicht. Nazis und Rassisten sind die Bewohner eines schwäbischen Kleindorfs jetzt auch nicht automatisch alle, "nur" weil sie die zugezogene türkische Familie nicht zu 100% in ihrer Mitte aufnehmen. Das tun sie mit der zugezogenen Familie aus Hamburg nämlich auch nicht.
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Tony Cottee

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Re: Aus aktuellem Anlass: Was ist Heimat?
« Antwort #21 am: 29.Juli 2018, 16:28:34 »

Na dann ist es ja gut.

Ich zitiere zum Thema Alltagsrassismus mal Behzad Karim-Khani:

Ich kann vielleicht 50 „Einzelfälle“ benennen. Ich bin von Skins angegriffen, von Schulkameraden gehänselt, vom Nachbarn angespuckt, Kanake, Moruk oder einfach Ali genannt worden. Ist mir aber egal, hat mich nur stärker gemacht.
Ich könnte erzählen, wie oft ich grundlos von der Polizei angehalten, überprüft und gefilzt wurde. Auch egal. Schon schlimmeres erlebt.
Auch, dass nach 30 Jahren Deutschland immer noch die (spätestens) zweite Frage ist, wo ich eigentlich herkomme, ist mir egal. Hab mich dran gewöhnt.
Dass ich komplett verschiedene Reaktionen erhalte, je nachdem, ob ich mich als Perser oder als Iraner vorstelle. Geschenkt.
Die eigentlichen Gründe, warum ich mich niemals mit Deutschland identifizieren werde, liegen aber in den Dingen, die mir in meinem direkten, tendenziell linken oder zumindest liberal/aufgeklärten Umfeld passieren:
Die Anzahl der geistlosen Bombenlegerwitze und Islamistenseitenhiebe, die sie glauben, machen und verteilen zu können, weil das ja ironisch gemeint ist, da sie ja keine Rassisten seien, geht mittlerweile ins 4-stellige. Mein Ernst. Tagtäglich kommt sowas.
Wenn meine italienischen Freunde nach 10 Jahren Deutschland immer noch „er" und „sie“ verwechseln, oder zu Frauen „Jungs“ sagen, finden meine deutschen Freunde das irgendwie nonchalant, cool und sexy, wenn meine türkischen Freunde nach 12 old fashioned´s mal Dativ und Akkusativ vertauschen, werden sie belächelt.
Ich höre immer wieder antisemitische Sprüche in meinem Umfeld mit einem Augenzwinkern mir gegenüber, weil sie glauben, dass ich ihren dummen Rassismus teile. Schließlich hassen „wir“, „die“ ja bekanntlich auch.
Wenn ich von Fremden für einen Italiener gehalten werde, tut mein deutsches Umfeld so, als hätte ich es als Kompliment aufzufassen, wenn ich für einen Israeli gehalten werde, glaubt es, dass ich beleidigt sein müsste.
Ich war mal auf Tinder mit 3 verschiedenen Namen und den gleichen Bildern. Chiaro, Bobby und Reza. Jetzt ratet mal, bei wem die Matches ausblieben.
Neulich las ich einen Artikel in der FAZ, in dem die Perser als „ein Volk von Teppichhändlern“ bezeichnet wurden, womit der Autor das vermeintliche Geschick bei den Atomverhandlungen unterstreichen wollte. In der FAZ. Kein Witz.
Ich könnte ewig fortfahren. Die Eltern meiner Freundinnen, meine Lehrer, Kaufhausdetektive, die Omi im Bus, im Aufzug, im Treppenhaus etc etc. Wirklich ewig. Ich will es nur nicht in die Länge ziehen. Fb Aufmerksamkeitsspanne und so. Das alles ist auch keine Klage. Ich bin kein Opfer. War nie eins, werde nie eins sein.
Nur eine Sache:
Nach 30 Jahren dachte ich, ich kenne Rassismus in all seinen Facetten und dann ging ich mit einer Frau aus, die Halbnigerianerin ist. Alles was ich bisher erlebt hatte, war dagegen ein Witz. Erwachsene redeten mit ihr, wie in Rapvideos. Yo! Yo! Yo! Nigger! Nigger! Nigger!
Jetzt konnten sie es endlich sagen. Jetzt kannten sie eine Schwarze. Jetzt waren sie Afroamerikaner. Yo! Yo! Yo! Nigger! Nigger! Nigger! Die Frau kommt aus Köln. Mehr denn je wollten Typen wissen, wie der Sex ist. Einmal gratulierte mir jemand zu der „Gazelle“, als sie kurz den Raum verliess und ich hörte Begriffe, wie „Mohr“ und „Neger“ aus Mündern von Menschen (Mehrzahl), die für die Süddeutsche und die Zeit schreiben oder bei arte arbeiten. 2015/16. In Berlin. Alles keine Rassisten. Alles nur Ironie.
Ich stehe auch nicht auf Erdogan, ich gebe Özil aber recht, wenn er sich fragt, warum er Deutschtürke ist, Podolski und Klose aber nicht Deutschpolen. Warum ist der Sohn des weissen GI's Deutscher, der Sohn des schwarzen GI's aber Afrodeutscher? Ich meine, wie viel hat dieser Junge bitte noch mit Afrika zu tun? Und warum ist Deutschrusse normal, Frankodeutscher oder Italodeutscher aber nicht?
Was ich also feststelle, ist nicht nur der stumpfe, direkte Rassismus der Afd, der Skins oder des Schrebergartenvereins, der ja zumindest sowas wie ehrlich ist. Was ich erlebe, sind auch die Abstufungen auf der Multikultiliste beim Bildungsbürgertum.
Ganz oben stehen die Imperialmächte und der geilere Süden. Brasilien, Argentinien, Italien, Kolumbien, Frankreich, USA, England.
Dann kommen sie selbst.
Als Perser stehe ich ungefähr hier (Ich bin Arier, meine Eltern Ärzte, der Shah war großartig. Kulturnation. Die gesamte westliche Zivilisation fußt auf blablabla. Geld hab ich bestimmt auch.)
Im Mittelfeld stehen die harmlosen Länder. Japan, Indien, Kanada, Australien etc.
Darunter kommt Afrika. (Geile Körper, süsse Babies, aber arm und dumm.)
Als Iraner stehe ich ungefähr hier. (Ich bin Schiite, trage ein Messer, mein Vater schlägt meine Mutter. Beide können nicht lesen, aber wenigstens bin ich kein Araber.)
Die stehen nämlich ganz unten, zusammen mit den Türken, den Afghanen und den Pakistanis. Und jetzt sag mir auch nur einer, dem sei nicht so.


Ich bin in Deutschland keine Minderheit, auch wenn mein polnischer Nachname auf dem Dorf auch gerne mal fuer zweifelhafte Witzchen her halten musste, aber ich bin der festen Meinung:

Ob es Rassismus gegen Migranten gibt, sollte ganz sicher nicht die nicht-migrantische Mehrheit (nicht einmal die oben beschriebenen "Vorzugsmigranten") beurteilen. Da sollten wir solchen Schilderungen schon vertrauen und mal in uns kehren und ueberlegen, ob wir wirklich so integrationsfreudig und menschlich sind, wie wir das immer darstellen.

« Letzte Änderung: 30.Juli 2018, 03:45:29 von Tony Cottee »
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