Seit diesem „denkwürdigen“ Tag war genau eine Woche vergangen. Einige wenige wagten gedanklich sicherlich noch eine dritte Option ins Spiel zu bringen. In einem klassischen Theaterstück würde dies wie folgt aussehen: Schwenk auf die Eingangstür. David Mehew betritt die Bühne. Er klärt Nigel Hughes und Rahel sowie mir, - der immer noch ungläubig herum stand -, dass er von seinem Posten als Cheftrainer der Tigers zurücktreten wolle. Geschockt von dieser unerwarteten Wende kann ich nur ein erstauntes „Oh!“ von mir geben. Nach kurzem hin und her, verlässt David Mehew die Szenerie. Nigel Hughes schüttelt mir die Hand und ich bin Trainer der Tigers. Nun ist es an Rahel ein erstauntes „Oh!“ von sich zu geben. Szene Ende. Damit wäre ich nun der Retter in der Not, der das Ruder des zu sinken drohenden Kahns ergreift. Denjenigen, die an eine solche Auflösung gedacht haben sei gesagt: Dies trat nicht ein. Also blieben im Grunde nur Option 1 und 2.
Alles wie gehabt? Nicht ganz. Denn beim zweiten Szenario hatte ich eines nicht bedacht, dass trotz der Unbedarftheit des Präsidenten im Zuge meines Engagements vielleicht schon länger auf einen Trainerwechsel hingearbeitet worden war. Demnach konnte mir Hughes mitteilen, dass zwar offiziell Mehew noch Trainer von Gloucester sei, aber seit geraumer Zeit von den McGurk Brüdern, den Förderern des Vereins und örtlichen Bauunternehmern, und ihm auf eine Strukturanpassung hingearbeitet wurde. Sowohl die McGurks, die seiner Erklärung nach seit Monaten einen neuen Trainer von „internationalem“ Format installieren wollten, um diese Strukturanpassung zu etablieren, als auch er seien von mir durchaus - mangels Alternative? - überzeugt.
Seiner Ansicht nach habe ihn mein präsentiertes Konzept vom Fußball und den Strukturen derart überzeugt, dass er sich mit den McGurks kurzgeschlossen hatte. Diese wären zwar enttäuscht gewesen, dass es sich beim möglichen zukünftigen Trainer „nur“ um einen Österreicher mit mangelhafter Erfahrung als Trainer und nicht um jemanden mit internationalem Format handle. Letztlich seien sie aber zur Überzeugung gekommen, dass ein solcher Trainer im Augenblick noch nicht verpflichtet werden könne, aber zumindest ein Anfang könne mit meiner Verpflichtung gemacht werden. Darüber hinaus sei gerade meine absolute Nicht-Verwurzelung im Bereich des Fußballs jener Weg, den sie einschlagen möchten um die verkrusteten Strukturen hier in Gloucester aufzubrechen und um vielleicht in den kommenden Jahren noch ein Stück höher zu klettern.
Hughes wollte mir diesen Schwenk als Win-Win-Situation schmackhaft machen. Sie bekämen jemanden, der nicht Knietief in den Untiefen des englischen oder gloucesterschen Fußballs steckte. Und ich könnte meine erste Anstellung als Trainer bekommen. Jedoch müsste ich noch eine Woche warten, bis sich der erste Staub über die „unerwartete“ Ablöse David Mehews gelegt habe. Und damit wären wir bereits bei jemanden der sicherlich nicht von dieser Win-Win-Situation profitieren würde: David Mehew. Mehew hatte die Tigers eine Stufe höher geführt und sich diesen Posten absolut verdient. Warum baute man nicht auf ihn, wenn es darum ging diese Strukturanpassung umzusetzen? Und verdammt noch einmal hatte man David Mehew nicht schon informiert?
Hughes wand sich sichtlich bei der Beantwortung dieser Fragen. Insgesamt kam mir die gesamte Erklärung warum, weshalb und wieso ich nun doch Trainer bei City werden sollte ziemlich fadenscheinig vor. Ein glaubhafter Ausweg aus dieser Geschichte könnte durchaus anders aussehen. Was mich von einer unmittelbaren Zustimmung abhielt war das Stimmungsbild der Fans. Aus leidvoller Erfahrung hatte ich in den letzten Jahren bei meinem Herzensverein so einiges mitbekommen. Ich konnte mich gänzlich in die kommende Stimmungslage der Fans hineinfühlen, aber wollte ich deswegen auf den Job, den ich seit Monaten anstrebte, verzichten? Wollte ich päpstlicher als der Papst sein? Und konnte ich mir vorstellen diesbezüglich über meinen eigenen Schatten zu springen und die ganze Schose an vorderster Front auszusitzen?
Fragen über Fragen. Nun war es an mir ganz genau zu überlegen bevor ich einem möglichen, wankelmütigen Präsidenten und größenwahnsinnigen, wenn auch potenten, Geldgebern mein Ja-Wort gab. Das Eingehen einer Ehe mit Gloucester könnte mich zwar zu meinem Platz an der Sonne führen, aber zu welchem Preis? Dieser war nicht einfach abzuschätzen. Könnte ich doch wie Ikarus schnell und tief fallen, um mich letztlich nie wieder davon zu erholen. Deswegen bat ich nun um einen Tag Bedenkzeit. Hughes war einverstanden und so vereinbarten wir uns am nächsten Tag um 9:30 in der Geschäftsstelle wieder zu treffen.
Mir schwirrte der Kopf als ich an besagtem Tag die Geschäftsstelle verließ. Früher als geplant begab ich mich zu den Docks. Dort versuchte ich selbigen frei zu bekommen. Dies war verdammt schwer. Zwischen Fan sein und verantwortlich sein liegen doch Welten. Einwenig konnte ich dadurch gewisse Abwägungen von anderen Trainer und ja auch Präsidenten aufgrund dieser persönlichen Entwicklung nachvollziehen. Leichter machte es die Entscheidung nicht, denn sollte ich mich für diesen Job entscheiden war klar, dass ich einiges würde abkommen. Unbeschadet aus dieser Affäre hervorzugehen wäre nicht möglich.
Als ich das nächste Mal auf meine Uhr blickte, musste ich feststellen, dass der Tag bereits weit vorangeschritten war. Die Dämmerung begann einzusetzen und ich hatte mich immer noch nicht zu einer definitiven Absage oder Zusage durchringen können. Langsam begab ich mich zurück ins Bed & Breakfast. Ich zog mich auf mein Zimmer zurück, aber an schlafen war nicht zu denken. Bis 6 Uhr Morgens wälzte ich mich im Bett herum, ohne dass ich ein Auge schließen konnte. Das Frühstück ließ ich ausfallen. Dafür machte ich einen Morgenspaziergang durch Gloucester. Ohne Eile konnte ich noch das eine oder andere dieser Stadt entdecken bevor ich bei der Geschäftsstelle der Tigers auftauchte.
Schließlich war es soweit. Punkt 9:30 stand ich vor der Tür, die mir am Vortag von Rahel nicht freiwillig geöffnet worden war. Präsident Hughes öffnete mir persönlich die Tür. Außer ihm schien niemand in der Geschäftsstelle zu sein. Doch da täuschte ich mich. An diesem Tag sollte ich Eamonn und Brian McGurk kennen lernen. Beide erwarteten mich schon und harrten ob meiner Entscheidung, die ich bis zu diesem Zeitpunkt noch immer nicht getroffen hatte. Standen doch meine Gedanken auch in diesem Augenblick noch in Widerstreit miteinander. Trotz all des Abwägens hatte ich mich zu Nichts durchringen können. Könnte man mir jetzt als Nachteil auslegen. Aber was niemand weiß kann kein Nachteil sein. Nach der Begrüßung war es doch an mir Farbe zu bekennen. Einwenig blass um die Nase sprach ich die drei Worte: „Ich mache es!“ aus. Damit konnte der Shitstorm auf mich einprasseln.