Aus dem Leben des Jürgen Peters
Anmerkung: Die Person Jürgen Peters ist frei erfunden und natürlich mussten einige wichtige Ereignisse seines Klubs etwas angepasst werden, damit es im Sinne der Story passt. Solche Veränderungen sind beabsichtigt, auch wenn mir auch unbeabsichtigte Abweichungen von der Realität unterlaufen sein könnten.
24. Juni 2014
Ich hatte Kopfschmerzen, als ich aufwachte. Ein Blick auf die Uhr war mir zu anstrengend, aber die Sonnenstrahlen, die durch den Rand meines Rollos kamen, ließen die Schlussfolgerung zu, dass es schon mindestens mittag sein musste. Deshalb stand ich auf.
Noch müde und etwas benommen durchquerte ich mein Schlafzimmer, bis ich den Wandspiegel am Kleiderschrank erblickte und stehenblieb. Von meiner einst musukulösen und sportlichen Erscheinung war in den letzten Jahren wenig übrig geblieben – mein nackter Körper, den ich gerade betrachtete, sah mit dem kräftigen Ansatz eines Bierbauchs, den dünnen Armen und meinen 1,98 m Körpergröße reichlich skuril aus – irgendwie wir eine Birne auf Beinen, nur unsymmetrisch geformt und mit kurzen, hellbraunen Haaren und braunen Augen.
Ich wollte mich gerade auf den Weg unter die Dusche machen, als mich die Türklingel erschrak und dadurch mein kleiner, rechten Zeh mit dem Kleiderschrank kollidierte. Ich unterdrückte einen Schrei und unter Schmerzen im Zeh und dem dumpfen Pochen im Kopf eilte ich ohne nachzudenken zur Tür und öffnete sie.
Vor der Tür stand Olaf. Als er mich mit kritischem Blick von oben bis unten musterte, fiel mir wieder ein, dass ich ja nackt war und ich trat einen Schritt zur Seite. Olaf hingegen, solches Verhalten von mir schon gewohnt, zuckte nur mit den Schultern und trat an mir vorbei in meine Wohnung.
"Zieh dir was an. Ich muss mit dir reden." Es klang irgendwie ernster als sonst und ich ging zügig ins Schlafzimmer, fischte mir eine Unterhose vom Boden und zog sie an. "Es ist schon fast mittag.", stellte Olaf trocken fest. Ich zog mir eine Hose und ein Shirt über und ging ins Wohn- und Esszimmer, wo sich Olaf auf dem Sofa niedergelassen hatte. "Versuch du mal, nach eineinhalb Flaschen Schnaps am Abend früh aufzustehen." Ohne zu Lachen oder auf meinen Witz einzugehen zog Olaf eine Augenbraue hoch und deutete auf die zahlreichen leeren Bierflaschen auf dem Tisch. "Und wer hat die alle getrunken?" Ich überging seine Frage und antwortet nicht. Stattdessen versuchte ich kurz zu entscheiden, ob sein Gesichtsausdruck eher Ekel oder Mitleid zeigen sollte. Nach wenigen Sekunden gab ich es allerdings auf und war froh, dass auch Olaf das Thema fallen ließ.
"Ich brauche deine Hilfe.", sagte er stattdessen und brachte mich damit zum Lachen. "Bisher war es doch eher immer umgekehrt. Was sollte ich noch für dich tun können?" Ich dachte selbst kurz darüber nach. Während ich in den letzten Jahren langsam zu einem deprimierten, selbstbemitleidenden wandelnden Bierfass verkommen war, hatte sich Olaf zum Spitzenmanager hochgearbeitet. So sah er auch heute wieder aus – er trug feine, schwarze Lackschuhe, einen dunklen Anzug mit hellblauem Hemd und dunkelblauer Krawatte. Seine kurzen, schwarzen Haare waren mühsam gekämmt und seine blauen Augen wurden von einer breiten Brille mit Metallrahmen verdeckt. Dementsprechend war ich es in den letzten Jahren gewesen, der sich normalerweise die Hilfe von ihm holte – vor allem, wenn ich mal wieder jeden Cent umdrehen musste, um die Miete für den nächsten Monat noch zahlen zu können.
"Ich brauche eine Identifikationsfigur. Jemanden, den die Fans lieben und verehren. Jemanden, der Einhundertundzehn Prozent für den Verein steht. Und jemanden, der wenigstens ein bisschen Ahnung von Fußball hat." Olafs Worte waren mit Bedacht gewählt, denn er kannte mich mittlerweile gut genug. Wenn er mich packen wollte, musste er mich beim Ego greifen – und das tat er. Genauso gut wusste er, dass ich das durchschauen würde, aber das war in diesem Fall egal, denn dafür war es jetzt ohnehin zu spät. Ich stand schon zu tief in seiner Schuld, um ihm eine Bitte abschlagen zu können.
"Und was soll ich tun? Mich bei den Heimspielen blicken lassen? Auf der VIP-Tribüne gute Miene zum bösen Spiel mimen?" Es war kurz still in meiner Wohnung. "Peter geht es nicht gut. Er muss aufhören. Ich brauche einen neuen Cheftrainer."
29. August 1992
Als mich mein Vater zum Fußballplatz fuhr, prasselte der Regen schon gegen die Scheiben. Ich blickte grimmig durch die verschwommene Regenmasse und versuchte, etwas zu erkennen, aber ich sah nichts. Nichts außer Regen. Mein Vater bemerkte meine missmutige Laune sofort. "Ach Jürgen, so schlimm ist der Regen doch auch nicht. Letztes Wochenende habt ihr doch auch bei Regen gespielt und sogar gewonnen." Da hatte er recht. Dennoch blieb meine Laune missmutig. Denn heute war ein besonderer Tag und ein besonderes Spiel. Und Regen passte mir an diesem Tag überhaupt nicht.
Eine halbe Stunde später saß ich neben meinem besten Kumpel Thilo in der Kabine und zog mir die Stutzen hoch. In der Kabine war es still, als Thilo das aussprach, was alle anderen dachten: "Ausgerechnet heute!" Ja, ausgerechnet heute.
Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie mein 12jähriges Ich sich an diesem Tag warm machte. Ich lief ein paar Runden und versuchte, nicht erbitterlich zu frieren, denn es war kalt und ich war vom Regen durchnässt. Thilo lief neben mir und ihm erging es ähnlich. Allerdings hatte er den körperlichen Vorteil auf seiner Seite: Während er noch relativ klein und kräftig war und den Wachstumsschub noch vor sich hatte, stecke ich mittendrin. Das Ergebnis war ein langer, knochiger Körper, der zwar in Kopfballduellen einen Vorteil für sich hatte, aber bei Kälte fürchterlich froh. So wie heute. Ich zitterte vor Kälte und machte mich länger warm als sonst.
Als sich der Anpfiff näherte, regnete es so stark, dass man die Anzeigetafel nicht mehr lesen konnte. Nun gut, Anzeigetafel ist natürlich eine Übertreibung – unser Verein hatte nicht das Budget für ordentliches Equipment und Andreas, die gute Seele unseres kleinen Stadions, musste während der Spiele der ersten Mannschaft immer per Hand die Spielstände an der Klapptafel anbringen. Bei Spielen der Jugendmannschaft wurde sie eigentlich nicht genutzt – heute war das anderers.
Die Geschichte des Spiels selber ist schnell erzählt. In strömendem Regen hatten wir keine große Chance, unser Torwart Bernd hatte einen sehr frustrierenden Nachmittag. Zehn Mal musste er den Ball aus dem eigenen Netz holen. Viel gelang uns nicht, unser Gegner war schlichtweg mehrere Klassen besser als wir. Der durchnässte, harte Boden und die schlechte Sicht taten ihr übriges. Das Endergebnis lautete
SC Weitmar 45 – VfL Bochum 1848 2:10 (0:7)
Ich schoss an diesem verregneten Augusttag immerhin beide Tore für meine Mannschaft, natürlich beide per Kopf. Nur neun Tage später trainierte ich das erste Mal in einer Jugendmannschaft des VfL Bochum.