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Autor Thema: Die Qualen mit den Wahlen - Der Politikthread  (Gelesen 213725 mal)

DeDaim

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Re: Die Qualen mit den Wahlen - Der Politikthread
« Antwort #2280 am: 02.Juli 2024, 10:15:44 »

Es ging mir aber gar nicht darum, eine Diskussion zu "gewinnen". Ich habe mit dem Urteil des BVerfG argumentiert, weil daraus nach meiner Interpretation gewisse Handlungsvorgaben für die Bundesregierung hervorgehen bzw. der Handlungsspielraum in Sachen Klimaschutz begrenzt wird, die BRD also unabhängig von internationalen Abkommen und nationalen Gesetzen (auf die du zurecht als veränderbar rekurriert hast) aufgrund ihrer Verfassung handeln muss. Dass du dir (und irgendwie ja auch mir ;)) keine Interpretation aufgrund der fehlenden Expertise zutraust, finde ich gut und ehrlich. Als Laie bliebe uns dann das Ausweichen auf die Interpretation von Fachleuten. Die von mir zitierte Einschätzung hast du aber abgelehnt, also habe ich laienhaft versucht, die entsprechenden Punkte in der Originalquelle herauszuarbeiten. Wäre stattdessen eine andere fachliche Einschätzung der Diskussion zuträglicher gewesen? Möglicherweise. Ich habe zu diesem Zeitpunkt die Originalquelle für sinnvoller gehalten, vielleicht war das ein Fehler von mir.

Im Übrigen hast du schon Recht: Der Klimabeschluss besteht nicht im luftleeren Raum. Es ist aber nunmal die Rechtsprechung des BVerfG, dass qua Zuständigkeit über die Auslegung des Grundgesetzes entscheidet, salopp formuliert. Die verfassungsmäßigen Pflichten des Staates existieren ebenso wie der von dir (in meinen Augen ebenfalls diskussionsverengende ;)) Sachverhalt, dass Deutschland relativ gesehen nur einen kleinen Einfluss auf das Weltklima nimmt. Beides ist Teil der Realität und mir ging es eigentlich nur darum, dass wir in der Diskussion um den Klimaschutz in Deutschland beides als Teil der Realität anerkennen. Davon ausgehend hätte man sich darüber austauschen könne, wie das eigentlich vonstatten gehen kann: Die verfassungsmäßigen Verpflichtungen und die globale Umstände in Einklang zu bringen. Schade, dass es dazu nun wohl nicht mehr kommt.
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Re: Die Qualen mit den Wahlen - Der Politikthread
« Antwort #2281 am: 02.Juli 2024, 10:16:59 »

Die verfassungsmäßigen Verpflichtungen und die globale Umstände in Einklang zu bringen. Schade, dass es dazu nun wohl nicht mehr kommt.
Ich bin ganz Ohr, wie du dir das vorstellst.
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DeDaim

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Re: Die Qualen mit den Wahlen - Der Politikthread
« Antwort #2282 am: 02.Juli 2024, 12:38:46 »

Zunächst kann man ja die Frage stellen, ob es denn wirklich nicht möglich ist, Klimaneutralität bis 2045 oder 2050 mit wirtschaftlicher und sozialer Stabilität zu verbinden. Du meintest:
Ob Deutschland 2045 oder 2065 CO2-neutral ist spielt für den Klimawandel keinerlei Rolle, Gesetze und Abkommen kann man ändern, das sind keine Naturgesetze. Die Energiewende und auch alle anderen Wenden müssen gut geplant werden und dieser Plan muss dann auch durchgezogen werden, mit den geringstmöglichen Kosten. Beides, gute Planung und Kostenminimierung, vermisse ich.
Das heißt ja aber nicht, dass bei guter Planung nicht trotzdem eine Klimaneutralität bis 2050 erreichbar ist, ohne Deutschland wirtschaftlich zu ruinieren. Das Schöne ist, ich muss mir dazu gar nichts vorstellen, denn die Gedanken haben sich bereits die Leute gemacht, die darin Expertise besitzen: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Von der Leopoldina (der deutschen Akademie der Wissenschaften, die Aufnahme darin gleicht einem wissenschaftlichen Ritterschlag) gibt es gemeinsam mit acatech und der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften eine Studie aus dem letzten Jahr, die sich damit auseinandergesetzt hat, wie Deutschland Klimaneutral werden kann. Dabei wurden Gesellschaft, Politik und Wirtschaft in den Blick genommen. Das Ergebnis gibt es in der Kurzfassung, die Langfassung findet sich hier verlinkt, aber ich glaube kaum, dass hier jemand >200 Seiten lesen möchte :D: https://www.leopoldina.org/publikationen/detailansicht/publication/wie-wird-deutschland-klimaneutral-handlungsoptionen-fuer-technologieumbau-verbrauchsreduktion-und-kohlenstoffmanagement-2023/

Von der Leopoldina gibt es außerdem ein Dossier aus dem Jahr 2022, das sich einerseits mit dem Klimawandel und seinen Folgen beschäftigt, andererseits aber auch aufzeigt, welche Wege es geben könnte. Ist vielleicht auch ganz gut zur Einordnung. Ganz am Ende sind auch Publikationen zu dem Themenfeld verlinkt. Die Publikationsliste wird meiner Wahrnehmung nach aktuell gehalten: https://www.leopoldina.org/wissenschaft/klimaforschung/klimaforschung-einleitung/

Es gibt auch andere Pläne bzw. Studien, die ähnlich umfassend sind (z. B. von Agora Energiewende). Ja, ich wiederhole mich da, aber ich bin tatsächlich der Auffassung, dass man sich politisch parteienübergreifend auf einen Plan einigen müsste, der wissenschaftlich fundiert, wirtschaftlich und sozial verträglich ist, und diesen dann durchziehen müsste, sofern die Rahmenbedingungen sich nicht so verändern, dass eine Anpassung notwendig ist. Das Herausgreifen von politisch genehmen Versatzstücken wird jedenfalls nicht zum Erfolg führen, sondern dazu, dass Deutschland seine Klimaziele verfehlt und dabei sehr viel Geld in den Sand setzt.
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Re: Die Qualen mit den Wahlen - Der Politikthread
« Antwort #2283 am: 02.Juli 2024, 14:03:04 »

Wo genau kann man in dem Paper der Leopoldina nachlesen, dass die Klimaneutralität Deutschlands ohne wirtschaftliche Einbußen und Wohlstandsverlust machbar ist? Ich lese da in der Zusammenfassung vor allen Dingen eines: Reduzierung des Stromverbrauchs (bei gleichzeitig mehr großen Stromverbrauchern wie Wärmepumpen und eAutos) und Reduzierung des Konsums (genannt "nachhaltiger Konsum").

Das Wort "Wohlstand" kommt übrigens auch in der Langfassung nicht vor. Auch der volkswirtschaftliche Begriff "Wohlfahrt" kommt nicht vor, ebenso wie Wirtschaftsleistung, BIP findet sich nur zweimal, davon einmal im Abkürzungsverzeichnis, Bruttoinlandsprodukt kommt dreimal im Text vor, aber nicht im Kontext von Auswirkungen der beschriebenen Maßnahmen. Mir scheint das Paper liefert darauf keine Antworten.

Schon jetzt, bei gerade mal der Hälfte des Weges, sind die Auswirkungen dieser Politik in den Portemonnaies spürbar und schon jetzt will kaum noch ein Wirtschaftsunternehmen in Deutschland investieren, schon jetzt werden immer mehr Stellen abgebaut: https://www.maschinenmarkt.vogel.de/industrieunternehmen-stellenabbau-q1-2024-a-f42e66bad17008426607d4aad0e74e29/

Und um was zu erreichen? Nichts. Zumindest nichts, was den Klimawandel signifikant bremsen würde.

Es müsste halt mal ein ehrlicher, detaillierter und holistischer Plan mit drei Szenarien 2045, 2055, 2065 ausgearbeitet und vorgelegt werden, inkl. realistischer Kostenschätzungen ("Kugel Eis" ist keine), Auswirkungen auf die Wirtschaft und Auswirkungen auf die Menschen (Mobilität, Wohnen, Einkommen&Vermögen, Sozialleistungen). Dann hätte man etwas Handfestes, worüber man debattieren kann, auch ob Kosten und Nutzen im Einklang stehen und ob Deutschland sich das leisten kann und will. Und worüber dann im besten Fall die Bevölkerung basisdemokratisch abstimmen darf.

Diese gewaltige technologische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Transformation Deutschlands soll aber in gerade mal noch 21 Jahren durchgezogen werden, auch gegen den Willen des Souveräns. Einem Deutschland, das 14 Jahre für einen Flughafen und 10 Jahre für einen Bahnhof (der immer noch nicht ganz fertig ist) braucht. Bitte sieh mir nach, dass ich deinen Optimismus nicht teile, schon gar nicht in Sachen "Sozialverträglichkeit". Wo ist eigentlich das Klimageld geblieben?

Ich bin absolut pro 100% Strom aus EE, dadurch werden wir vom Ausland unabhängiger und das ist eine gute Sache. Aber das muss mit Verstand angegangen werden, mit Pragmatismus und mit der Einsicht, dass man Systeme, die sich seit Beginn der industriellen Revolution entwickelt haben, nicht von jetzt auf gleich ändern kann. Das gilt für die Wirtschaft, für die Stromerzeugung, für den Verkehr und wie wir leben, essen, konsumieren, wohnen und heizen.

Und Deutschland hat ja auch noch andere Probleme, die auch möglichst zeitnah gelöst werden müssen, es ist ja nicht so, als wäre sonst alles Sonnenschein. Die Energie-, Verkehrs-, Wirtschafts- und Wärmewende ist dabei ein hausgemachtes Problem.
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DeDaim

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Re: Die Qualen mit den Wahlen - Der Politikthread
« Antwort #2284 am: Heute um 07:34:41 »

Sorry, ich hatte die letzten Tage viel um die Ohren.

Ja, du hast Recht, das steht in dem Paper nicht. Ich hatte das anders in Erinnerung, mein Fehler. Eine solche systemische Vergleichsstudie, wie du sie vorschlägst, wäre tatsächlich sinnvoll. Verschiedene Zeithorizonte, aber auch verschiedene Transformationspfade (Fokus auf Elektrifizierung vs. Power-to-X vs. Technologiemix z. B.) müssten dabei berücksichtigt werden. Ich vermute zwar, dass aufgrund der verfassungsrechtlichen Beschränkungen ein Szenario 2065 darin gar nicht auftauchen würde, fände es aber im Sinne einer transparenten Diskussion sinnvoll. Möglicherweise wird genau daran ja auch gerade gearbeitet.

Ich habe mich bei der Gelegenheit auch nochmal ein bisschen auf die Suche gemacht (auch ein Grund, warum ich erst jetzt antworte). Es gibt zumindest Hinweise darauf, dass eine schnellere Energiewende am Ende sogar günstiger ist, als eine langsame: https://www.tagesschau.de/wirtschaft/energie/energiewende-investitionen-kosten-eon-100.html Zur Wahrheit gehört dabei aber auch, dass nicht alle Faktoren bei dieser Studie berücksichtigt wurden. Im September 2023 wurde außerdem eine Studie zu den gesamtwirtschaftlichen Folgen der Energiewende veröffentlicht: https://ariadneprojekt.de/publikation/hintergrund-gesamtwirtschaftliche-wirkung-der-energiewende/. Allerdings wird auch dort nur von einem Szenario 2045 ausgegangen, wenn ich das richtig verstehe. Interessant finde ich aber, dass dort ein Vergleich zwischen der Wohlfahrt heutiger und zukünftiger Generationen gemacht wird bzw. die Klimafolgekosten berechnet werden, je nachdem, was man höher priorisiert. Insgesamt würde ich aber nicht sagen, dass das, was da steht keine Horrorszenarien sind, sondern durchaus eine zu bewältigende Herausforderung.

Ich stimme dir aber zu: Mit Blick auf den Ablauf von Großprojekten in Deutschland darf man berechtigte Zweifel haben, wie das hier funktionieren soll. Es behauptet auch niemand, dass das leicht werden wird. Und natürlich sollten dabei andere Probleme im Land nicht vergessen werden, aber die Gleichzeitigkeit von Entwicklungen, Problemen und deren Bewältigung ist ja nun auch nichts Neues. Vielmehr vielleicht eher die Größe der Aufgabe(n) in Summe. Das Ergebnis von jahrelangem Stillstand im Land.

Die Frage nach dem Klimageld musst du Lindner stellen. ;) Schade eigentlich, dass es die Ampel bislang nicht (oder zu selten) geschafft hat, das Beste aus allen Welten zu vereinen und sich stattdessen immer wieder gegenseitig blockiert. Politikwechsel verschoben.
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Re: Die Qualen mit den Wahlen - Der Politikthread
« Antwort #2285 am: Heute um 12:02:51 »

"In the long run" wird sich EE natürlich auszahlen, alleine weil die Kosten für die Energieimporte drastisch sinken, allerdings ist die Lebensdauer recht begrenzt, PV und Windräder müssen mW. nach spätestens 30 Jahren ausgetauscht werden, dann hat man auch wieder Kosten an der Backe.

Energieautarkie ist zwar schön und die Ersparnis nimmt man gerne mit, es funktioniert aber nicht, wenn man es sich nicht leisten kann. Für einen Eigenheimbesitzer würde es sich langfristig auch lohnen, sein Haus perfekt zu dämmen, auf WP umzurüsten und massig Solar und Batteriespeicher zu installieren. Er muss das aber auch bezahlen oder einen Kredit bedienen können.

Und es hilft auch nichts, wenn das in der Zwischenzeit bedeutet, dass man seine Wirtschaft ruiniert, dann kann man der Presse zwar stolz den gesunkenen Stromverbrauch und gesunkenen CO2-Ausstoß präsentieren, über die Folgen dessen deckt man lieber den Mantel des Schweigens.

Auftragseingang im Verarbeitenden Gewerbe im Mai 2024: -1,6 % zum Vormonat - Statistisches Bundesamt
Auftragseingang im Verarbeitenden Gewerbe:
Mai 2024 (real, vorläufig):
-1,6 % zum Vormonat (saison- und kalenderbereinigt)
-8,6 % zum Vorjahresmonat (kalenderbereinigt)

April 2024 (real, revidiert):
-0,6 % zum Vormonat (saison- und kalenderbereinigt)
-1,8 % zum Vorjahresmonat (kalenderbereinigt)

https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2024/07/PD24_259_421.html

Für Mai wurde mW. ein Plus von 0,5% prognostiziert. Es geht weiter abwärts und was macht der Wirtschaftsminister dagegen? Nichts.

Hier mal eine Stimme aus dem Ausland:
Griechen-Kommentator wütet: „Deutschland rutscht auf Niveau der Dritten Welt ab“ - FOCUS online
In Griechenland sorgt ein heftiger Deutschland-Kommentar für Schlagzeilen: Der Journalist und frühere Baerbock-Fan Michalis Psylos sieht die deutsche Wirtschaft auf dem Weg zum „Niveau der Dritten Welt“. Auch ein geplatzter deutsch-griechischer E-Auto-Deal sorgt für Spott und Häme.

https://www.focus.de/video/politik/in-renommierter-wirtschaftszeitung-griechen-kommentator-wuetet-deutschland-rutscht-auf-niveau-der-dritten-welt-ab_id_260106555.html

Mehr schlechte Nachrichten:
Zahl der Rentner mit Grundsicherung steigt auf Rekordhoch
Immer mehr Senioren in Deutschland sind zusätzlich zu ihrer Rente auf Sozialhilfe angewiesen. Im ersten Quartal 2024 bezogen 719.330 Rentner die sogenannte Grundsicherung im Alter. Das geht aus Zahlen des Statistischen Bundesamts auf Anfrage der BSW-Gruppe im Bundestag hervor, die der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ vorliegen.

https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/zahl-der-rentner-mit-grundsicherung-steigt-auf-rekordhoch-19833000.html

Wie sich der Sozialstaat aufrechterhalten lassen soll, wenn sich die Industrie mehr und mehr aus D verabschiedet, konnte mir auch noch niemand schlüssig erklären. Folgerichtig wäre also, alles dafür zu tun, dass die Industrie Deutschland nicht verlässt. Es passiert aber das Gegenteil, die Wirtschaftsnachrichten sind voll von Hiosbotschaften.
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Re: Die Qualen mit den Wahlen - Der Politikthread
« Antwort #2286 am: Heute um 13:33:39 »

Wie sich der Sozialstaat aufrechterhalten lassen soll, wenn sich die Industrie mehr und mehr aus D verabschiedet, konnte mir auch noch niemand schlüssig erklären. Folgerichtig wäre also, alles dafür zu tun, dass die Industrie Deutschland nicht verlässt. Es passiert aber das Gegenteil, die Wirtschaftsnachrichten sind voll von Hiosbotschaften.

Ich will dir bei gar nichts widersprechen. Ist alles schlüssig, was du schreibst. Über die Bewertung der aktuellen Politik sind wir uns ja auch einig, auch wenn wir aus unterschiedlichen Richtungen kommen. Ich stelle einfach nur die Prämisse infrage, dass eine Klimaneutralität bis 2045-50 gleichzeitig den Ruin der deutschen Wirtschaft bedeuten muss. Mit Blick auf die Industrie ein Beispiel: Rund die Hälfte aller Hochöfen muss in den kommenden Jahren altersbedingt ersetzt werden. Ersetzt man die mit Kohle betriebenen Öfen durch solche, die mit Wasserstoff betrieben werden (der natürlich mithilfe von EE erzeugt werden sollte), könnte man dadurch schon einiges erreichen, ohne dass man auf Krampf alte Technologie durch neue ersetzt - sondern eben dann, wenn es notwendig ist. Der BDI hat 2018 (neuere Zahlen konnte ich nicht finden) den Investitionsbedarf für die Klimaneutralität der deutschen Wirtschaft auf 1,5 Billionen Euro geschätzt. Gehen wir mal davon aus, das gilt heute auch noch, wären das über einen Zeitraum von 20 Jahren ca. 75 Mrd. pro Jahr. Das sind knapp 2% des BIP, wenn ich mich nicht komplett vertue. Viel? Sicher. Machbar? Ja. Für die NATO sollen wir ja schließlich auch 2% des BIP ausgeben.

Wir müssen meiner Meinung nach in Deutschland endlich aufhören, Herausforderungen ausschließlich als problematisch zu begreifen, sondern auch Anfangen, die Chancen darin zu sehen. Eine Defossilisierung der deutschen Industrie bedeutet nicht die Deindustrialisierung des Landes, sondern kann auch aufgrund einer autarken (oder autarkeren) Energieversorgung geostrategische Unabhängigkeit bedeuten. Die deutsche Industrie hat auch immer noch nicht so einen Niedergang hingelegt, wie in anderen Ländern (ganz krass UK, aber auch in den USA). Auch im Vergleich steht die Wertschöpfung der deutschen Industrie mit ~22% gut da (Frankreich geht Richtung 10%). Natürlich unterstreicht das umso mehr die Notwendigkeit, hier Lösungen zu finden, die die Industrie im Land wettbewerbsfähig erhalten. Und da sind wir natürlich wieder bei der von dir angesprochenen (fehlenden) langfristigen Planung, die ja auch von Unternehmen in Form politischer Verlässlichkeit eingefordert wird.
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Signor Rossi

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Re: Die Qualen mit den Wahlen - Der Politikthread
« Antwort #2287 am: Heute um 15:34:59 »

Ich stelle einfach nur die Prämisse infrage, dass eine Klimaneutralität bis 2045-50 gleichzeitig den Ruin der deutschen Wirtschaft bedeuten muss.
So wie das wirtschaftspolitisch läuft, sehe ich da eigentlich keine Chance. Die Wirtschaft, besonders die Industrie, braucht günstigen Strom, günstige Rohstoffe und Arbeitnehmer mit hoher Produktivität, um die hohen Arbeitskosten aufzufangen. Und man braucht möglichst wenig Bürokratie, wenn man sich da das Lieferkettengesetz ansieht, stehen einem die Haare zu Berge.

Zum Wasserstoff: ich bin schon lange dafür, dass man mit dem Strom, den man ans Ausland abgibt und noch Geld on top legt, Wasserstoff macht. Man hört dann aber immer, das würde sich nicht lohnen, weil die Menge zu gering wäre. Außerdem müssen mW. die Wasserstoffhersteller den Marktpreis für den Strom bezahlen (ja, den gleichen Strom, den man ins Ausland verschenkt und denen man sogar noch Geld dafür gibt), selbst wenn der Wasserstoffhersteller gleichzeitig auch der EE-Stromproduzent ist. In Schilda wären sie stolz.

Zitat
Eine Defossilisierung der deutschen Industrie bedeutet nicht die Deindustrialisierung des Landes, sondern kann auch aufgrund einer autarken (oder autarkeren) Energieversorgung geostrategische Unabhängigkeit bedeuten.
Ein Unternehmen ist kein Selbstzweck, das Unternehmen muss profitabel sein, sonst wird es aufgegeben. Man kann steigende Kosten auch nur zu einem Teil auf den Preis umlegen, besonders wenn es diese Kosten in weiten Teilen der Welt nicht gibt. Entweder hat man also eine ultraproduktive Fertigung oder man hat ein nahezu konkurrenzloses Produkt, beides wird immer seltener, die Konkurrenz schläft nicht. Und ist beides nicht gegeben, hat man es im globalen Wettbewerb sehr, sehr schwer. Früher hatte "Made in Germany" einen Donnerhall, heute guckt man eher auf "german free", besonders bei Waffen.

Zitat
Die deutsche Industrie hat auch immer noch nicht so einen Niedergang hingelegt, wie in anderen Ländern (ganz krass UK, aber auch in den USA).
Die Betonung liegt auf noch, man darf auch nicht zu sehr darauf vertrauen, dass die deutsche Wirtschaft robust ist und das alles schon irgendwie überstehen wird. Die beiden abschreckendsten Beispiele hast du genannt, diese beiden Staaten waren der Meinung, dass eigene Industrieproduktion und verarbeitendes Gewerbe nicht mehr so wichtig sind, dass der tertiäre Sektor das schon ausgleichen würde. Ein schwerer Fehler, den wir nicht wiederholen sollten.

Besonders die USA versuchen gerade mit richtig viel Geld die Produktion aus China und aus Europa in die USA zurückzuholen, weil sie es auf "the hard way" gelernt haben. Und dabei haben die noch die globale Dominanz in Sachen IT und eine riesige Waffenindustrie, Deutschland steht auch da nur im dünnen Hemdchen, bis auf SAP ist mal gar nix los, Rheinmetall, Thyssen-Krupp und KMW sind im Vergleich zu den US-Waffenschmieden winzig.

GB hat sich auf den Finanzsektor spezialisiert und durch den Brexit (ebenso hausgemacht) auch riesige Probleme. Das sollte Deutschland eine Warnung sein, ist die Industrie erstmal weg, wird es extrem schwierig, sie wieder zurückzuholen. In Deutschland gibt es nämlich noch etwas, was es in den angelsächsischen Ländern deutlich weniger gibt: "Hass" auf Unternehmer (plus Häme für Leute die es wagen und scheitern) und auf Investoren, dazu wenig Risikokapital, das ist auch ein Problem.

Die gut bezahlte Industriearbeit ist die Basis unseres Wohlstandes und unseres Sozialstaates und wir legen momentan ganz massiv die Axt daran. Ohne Sinn und Verstand und ohne irgendeinen positiven Effekt auf den Klimawandel. Sollte da nicht sehr bald Vernunft Einzug halten, wird das verheerend, für und, aber noch mehr für unsere Nachkommen.

Zitat
Auch im Vergleich steht die Wertschöpfung der deutschen Industrie mit ~22% gut da (Frankreich geht Richtung 10%).
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