Zusammen mit Co-Trainer Collot sitze ich im Büro, ein Großteil des restlichen Trainerstabs hat es sich um uns herum in den verfügbaren Ledersesseln bequem gemacht oder aus anderen Räumen Plastikstühle besorgt. Auf dem Schreibtisch in der Mitte liegen die geöffneten Anschreiben diverser nationaler Fußballverbände. Alles afrikanische Staaten. Und alle haben sie zwei Dinge gemeinsam:
Erstens: Sie spielen in der Endrunde des African Cup of Nations/Coupe d’Afrique des nations mit.
Zweitens: Sie wollen Spieler aus unserem Kader in ihre Mannschaften berufen.
Das Turnier findet dieses Jahr vom 19. Januar bis 10. Februar in Südafrika statt und insgesamt sechs Spieler von Marseille werden daran teilnehmen. Ohne große Überraschung sind die Ayew-Brüder in den Kader von Turnierfavorit Ghana berufen worden. Zu erwarten war auch die Berufung von Nkoulou in die Nationalmannschaft Kameruns. Für Togo wird Aushilfsinnenverteidiger Mango auflaufen. Der Senegal beruft Routinier Diawara – und Youngster Sy! Die Senegalesen haben ein ernsthaftes Torwartproblem und da kommt ein Torhüter mit Erfahrung in der Ligue 1 und der Europa League gerade recht – auch wenn er erst 17 Jahre alt ist. Die andern beiden Nominierten spielen in der senegalesischen Liga, Sy darf sich also echte Chancen auf einen Startelfeinsatz ausrechnen.
Übersicht
Ghana: André und Jordan Ayew
Kamerun: Nicolas Nkoulou
Togo: Senah Mango
Senegal: Souleymane Diawara, Ibrahima Sy
Vor allem André Ayew würden wir natürlich schmerzlich vermissen, doch was mir erst durch Collots Bemerkung bewusst wurde, war noch viel schlimmer: uns würden drei von vier Innenverteidigern ausfallen! Übrig blieb aus der ersten Mannschaft nur Baptiste Aloé; Leyti N’Diaye und Larry Azouni spielten beide fast ausschließlich in der Reserve. Zum Glück betraf aber das ganze Turnier wahrscheinlich nur vier weniger bedeutende Ligaspiele, von denen nur das Spiel in Rennes schwieriger werden sollte. Trotzdem diskutieren wir mögliche Problemlösungen, die auch kurzfristige Aktivitäten auf dem Transfermarkt nicht ausschließen.
Die Hymne der Europa League, die aus dem Flachbildfernseher an der Wand tönte, reißt uns aus unseren Überlegungen.
“Es geht los.“, bemerkt Sportdirektor Anigo, der als einziger stehen geblieben ist und sich gegen die Wand lehnt, überflüssigerweise. Er wischt sich seine schwitzenden Hände an der teuren Anzugshose ab und gießt sich ein Glas Pastis – sein drittes, wenn ich richtig mitgezählt habe – ein. Wir hatten spontan entschlossen, nicht zur Auslosung der Zwischenrunde und des Achtelfinales ins schweizerische Nyon zu fahren, sondern uns das ganze Spektakel bequem am Fernseher anzuschauen. Die Anspannung im Raum war spürbar, hier würden heute wichtige Weichen für unser weiteres Abschneiden im kontinentalen Wettbewerb gestellt.
Als Gruppensieger haben wir aber das Glück, die schwierigsten Gegner umgehen zu können. Trotzdem sind mit dem
SSC Neapel, den
Tottenham Hotspurs oder dem
FC Málaga einige Brocken im Topf, auf die wir rein theoretisch treffen können.
Die ersten Paarungen werden verlesen, Málaga scheidet schon mal als möglicher Gegner aus.
“PSV Eindhoven!“ …
”Athletic Bilbao!”Unser Gruppengegner
Dynamo Moskau wird
Olympique Lyon zugelost. Als nächstes zieht die Losfee Kluivert die Überraschungsmannschaft
AC Horsens aus dem Topf. Die nächste Loskugel verlässt den Topf:
“Olympique Marseille!“Einen Moment lang ist Stille im Raum. Dann fällt die komplette Anspannung von uns und explodiert in einem einzigen ungläubigen Lachen und Jubelgeschrei. Anigos halbvolles Glas fliegt einmal quer durch den Raum und zerschellt an der gegenüberliegenden Wand. Das Gelächter hält an und so geht sogar unter, dass wir im Achtelfinale entweder auf den
SSC Neapel oder
Sporting Lissabon treffen werden. Zum Fürchten ist unser dänischer Gegner nun wirklich nicht.
In dieser ausgelassenen Stimmung geht das zaghafte Klopfen an der Bürotür fast völlig unter. Ich ermahne meine Mitarbeiter zur Ruhe und rufe ein lautes
“HEREIN!“ in Richtung Tür. Ein völlig verunsicherter Gignac betritt den Raum.
“Ähm … Bonjour, Messieurs. Äh. Trainer, eigentlich hätte ich Sie gerne unter vier Augen gesprochen.“ Unsicher blickt er in die Runde.
“Na kommt schon, Leute, ihr habt ihn gehört. Feiert draußen weiter.“ Lärmendes Stühlerücken ist die Folge, Collot verlässt als letzter den Raum und schließt die Tür.
“Was wird denn gefeiert, Trainer?“, fragt mich Gignac. Ich kläre ihn kurz über die heutige Auslosung und das Ergebnis auf.
“Aber nun zu dir, was gibt’s denn so Wichtiges?““Ich bin momentan sehr unglücklich, Trainer. Ich würde gerne in der ersten Mannschaft spielen, die Tribüne und die Reserve sind für mich eindeutig zu wenig. Seien Sie ehrlich mit mir, habe ich in dieser Saison noch Einsatzchancen?“Der Arme. Die Verletzungen haben ihm nicht gerade geholfen. Und wäre er ein paar Wochen früher, vor Jordan’s Leistungsexplosion gekommen, würde meine Antwort vielleicht anders ausfallen. Aber so …
“André, es tut mir leid, aber ich fürchte, du hast keinen Platz mehr in meinen Plänen.“Gignac bleibt gefasst.
“Gut. Danke, dass Sie so offen mit mir sind, Monsieur Savant. Was machen wir also?““Nun, wenn du so fragst, können wir dir natürlich helfen, einen neuen Verein zu finden, bei dem du wieder auf dem Platz stehen kannst. Das Transferfenster öffnet in knapp einer Woche, mit Glück finden wir dir schnell etwas Passendes.“Gignac wirkt regelrecht erleichtert.
“Vielen Dank. Ich schätze das wirklich, wie fair und ehrlich Sie mit mir umgehen. Ich bin Ihnen auch gar nicht böse, natürlich ist es ein Traum für einen Verein wie Marseille zu spielen, aber ich war zugegebenermaßen in letzter Zeit einfach nicht gut genug. Ich glaube ein Neuanfang wäre für mich das Beste. Ich hoffe, Sie werden bald mit ein paar Angeboten zu mir kommen.“Ich verspreche ihm, bald zu einem Ergebnis zu kommen, warne ihn aber auch, dass der Verein ihn sicher nicht für lau abgeben wird und auch schauen muss, finanziell einen guten Deal zu machen. Nachdem er gegangen ist denke ich noch einmal kurz nach. Es IST die richtige Entscheidung. Gignac hat hinter Rémy und Jordan keine Chance, von unten rückt der junge Omrani nach. Da ich konsequent nur mit einer Spitze spiele, sind vier Stürmer zu viel, vor allem wenn einer keine Leistungen bringt. Ein kurzer Blick in die Gehaltsabrechnung bestätigt mich noch weiter: mit 3,9 Millionen Euro Jahresgehalt ist Gignac unser Spitzenverdiener …