19.11.1988.
Das erste Mal. Als kleiner Bub an Vaters Hand.
Mein Dad ist ein Blauer, war in den Sechzger Jahren bei den großen Triumphen dabei, fuhr des Öfteren auch auswärts mit und hat viel mit den Löwen mitgemacht. Als ich anfing, mich für Fußball zu interessieren, hat er mir davon erzählt, ließ mir aber freie Hand bei der Vereinswahl. Samstags lief "Heute im Stadion" im Radio, so richtig interessant wurde es aber erst, wenn die Bayernliga-Ergebnisse kamen - es war die Zeit, als es noch kein Internet und keine Smartphones gab.
Die Tendenz ging schon früh Richtung Blau (Löwentrikot im Säuglingsalter), meine ersten Stadionerlebnisse waren aber bei den Roten im Olympiastadion und eigentlich war alles angerichtet, dass ich bei denen lande: die waren dauernd Meister, haben Fußballfeste gefeiert, hatten Nationalspieler in ihren Reihen.
Und 1860? Sportlich meist furchtbar, Skandale, Bayernliga-Tristesse.
Jahrelang bat ich meinen Vater vergebens, dass wir mal zu den Löwen ins Stadion gehen. "Das ist zu wild für Dein Alter. Ich hab echt keine Lust darauf, dass Dir irgendso ein Irrer sein Bier ins Genick kippt." Thema gegessen. Mit 10 hatte ich ihn dann so weit: es war der 19. November 1988, es war kalt, aber es war ein Tag, der mein Leben verändern würde. Mein erster Besuch im Sechzgerstadion. Ich war fasziniert von den Menschen, von der Atmosphäre, der Stimmung und der Leidenschaft. die Löwen schlugen den VfL Frohnlach mit 5:1 und es war klar: mein Verein für alle Zeit wird 1860 sein.
Danach ging ich öfter ins Stadion, die Besuche in Giesing mehrten sich, später wurde es eine Dauerkarte und der Spielplan der Löwen bestimmte die Freizeitplanung. 2. Bundesliga, 1. Bundesliga - die ganz Großen zu Gast in Giesing. Wahnsinn!
Ein Großgastronom und Vereinspräsident führte meinen Verein bis in die Qualifikation der Champions League - und trat die Wurzeln des TSV 1860 mit Füßen. Die Löwen zogen ins Olympiastadion, später in ein schlauchförmiges Gebäude vor den Toren der Stadt. Es war nicht mehr das Selbe, auch wenn es im Exil ebenfalls denkwürdige Matches gab - man denke nur an den 27.11.1999...
So schlug ich 1995 ein neues Kapitel auf, das mich über viele Jahre begleitete und dem ich extrem viel Zeit widmete: die Amateure. Bei meinem ersten Amas-Spiel im Sechzger (endlich mal wieder ein Match in der Heimat!) fiel mir das Fanzine SDL (Sinn des Lebens) in die Hände. Deren Macher Stephan Tempel und Basi Fantasi sprachen mir mit ihren Worten aus der Seele und mir wurde klar, dass ich nicht der Einzige bin, der Sechzig gerne wieder in Giesing sehen würde. So konnte ich im Kampf um unser Stadion in den Folgejahren zahlreiche Kontakte knüpfen und Freundschaften schließen, die bis heute halten. An dieser Stelle sei exemplarisch mein bester Freund und Trauzeuge Manuel Böhm genannt, den ich ohne Sechzig wohl nie kennengelernt hätte.
Kurze Zeit später stieg ich selber beim SDL ein, es folgten andere Fanzines wie die "staz" und der "Rotz im Schnauzbart" - stets kritisch, stets hinterfragend und nie konform mit der Vereinspolitik des angesprochenen Großgastronoms.
Was waren das für Zeiten damals? Die große Euphorie, als Manni Schwabl seine Stadionpläne vorstellte, die Enttäuschungen, als man immer wieder vor Augen geführt bekam, dass der Verein gar kein Interesse hat, sich seiner Wurzeln zu besinnen und stattdessen zum billigen Abklatsch des Lokalrivalen werden möchte, die zunehmende Spaltung der Fanszene, die der Präsident aktiv vorantrieb, indem er die "Ewiggestrigen", die "Störer" und "Plärrer" öffentlich diffamierte, ins kriminelle Eck stellte und es Vereinsausschlussverfahren hagelte.
Aber wir gaben nicht auf, wir waren stark und wir waren gewillt, uns nicht unterkriegen zu lassen. Mit Gründung des TSV Weiß-Blau Sechzgerstadion (WBS) wurden wir nun auch auf sportlicher Ebene aktiv und dieser Verein (heute übrigens als Spielgemeinschaft mit den Löwen als TSV 1860 III und IV im Spielbetrieb des BFV) vereinte traditionsbewusste Löwenfans, die sonst wohl aufgrund komplett konträrer Einstellungen nicht zueinander gefunden hätten. Auch diese Bande sind heute noch sehr stark und ich freu mich jedes Mal wieder, einen der Jungs zu sehen.
WBS erfüllte mir den Traum, selber im Stadion an der Grünwalder Straße spielen zu dürfen und ich werde diese Tage nie vergessen. Das erste Mal als Spieler durch den Tunnel kommen, Hunderte Zuschauer auf der Tribüne, eine Stadionzeitung, der eigene Name aus den Lautsprechern auf Giesings Höhen...
Parallel wurden aber natürlich weiterhin fleißig Matches besucht, hauptsächlich die der Amateure und nach dem Aufstieg in die damals drittklassige Regionalliga Süd gründeten Alexander Rieger, Manuel Böhm und meine Wenigkeit mit freundlicher Unterstützung durch den damaligen NLZ-Leiter Ernst Tanner den TSV 1860 München II / Ama-Lion. Vier intensive, arbeitsreiche Jahre, in denen wir aufgrund unserer mitunter schon recht vereinskritischen Ansichten, die wir auch im Heft zum Besten gaben, nicht immer mit Samthandschuhen angefasst wurden. An dieser Stelle auch einen Dank an den Ernst, der uns zwar liebevoll als "Fundamentalisten" bezeichnete, aber als Verantwortlicher für den Ama-Lion doch die schützende Hand über uns hielt und uns gewähren ließ.
Es folgte mein Umzug nach Heidelberg, später an den Bodensee und die nicht nur körperlich zunehmende Entfernung vom TSV 1860. Die Profis in der Arena völlig uninteressant, die Amateure meist nur noch auswärts - die Löwen waren eine Zeit lang für mich nur noch Erinnerungen und ganz besonders die Leute, die ich über die Jahre hinweg kennen- und schätzen gelernt habe.
Ein jordanischer Investor setzte der Entfremdung die Krone auf. Ein Investor wohlgemerkt, der gar nicht investierte, sondern nur Darlehen vergab und den völlig überschuldeten Komapatienten TSV 1860 künstlich am Leben erhielt. Ja, die Beteiligung an der Arena hatte den Löwen das Genick gebrochen... Es ist ja nicht so, dass wir nicht damals schon auf die Gefahren hingewiesen hätten. Ja, wir wussten es besser, aber wir wurden vom Großgastronom ausgebremst, diffamiert und als "Vereinsschädlinge" beleidigt. Heute wie damals wissen wir: wir lagen richtig!
Im Internet entstand das virtuelle "Projekt Abstieg" in der Hoffnung, man könne vielleicht doch eines Tages wieder nach Giesing zurückkehren, aber ich geb zu: als Kai Bülow zum 2:1 gegen Kiel traf, habe ich mir die Seele aus dem Leib gebrüllt, mir das Trikot vom Leib gerissen und meine Freude aus dem Fenster geschrien, dass es vermutlich ganz Friedrichshafen gehört hat. Mit dem Gedanken gespielt, mir das Match in der Arena anzusehen, habe ich übrigens nicht eine Sekunde. Man kann mir viel vorwerfen, aber Konsequenz nicht.
In der Saison 2016/17 war es dann so weit: der Investor hatte freie Hand, gab weitere Darlehen und die KGaA warf Geld zum Fenster raus. Statt des erhofften Aufstiegs stand am Ende der Relegationsplatz und nach zwei beschämenden Leistungen gegen Jahn Regensburg war der sportliche Abstieg in die 3.Liga besiegelt. Tage später der nächste Hammer: "4"! Diese eine Ziffer aus einer SMS des Investors an die SZ machte einmal mehr deutlich, worum es dem Jordanier geht: Macht. Er ließ die Löwen direkt in die Regionalliga Bayern abrutschen - im Irrglaube, dass dort die 50+1-Regel nicht gelte. Doch da hat er die Rechnung ohne den Wirt gemacht, denn einen Tag vorher beschloss der BFV, dass 50+1 auch auf dieser Ebene gelte und stellte der völlig überschuldeten KGaA in Aussicht, an der Regionalliga Bayern teilnehmen zu dürfen. Die Löwen würden also das erste Mal in ihrer Historie viertklassig sein.
Der Rest ist bekannt: unter dem neuen Präsident Robert Reisinger (der hoffentlich am Sonntag bestätigt wird!) wurde Herr Fauser zum neuen GF ernannt und dieser erwirkte, auch auf Wunsch des eV, die Auflösung der Arena-Verträge und die Rückkehr nach Giesing.
Endlich! Erlösung! Das lange Warten hat ein Ende. Heute Abend empfängt der TSV 1860 München im Sechzgerstadion Wacker Burghausen zum ersten Heimspiel. Ich werde körperlich nicht anwesend sein (bei aller Liebe zu 1860, aber mein einmonatiger Sohn Nino steht dann doch mehrere Stufen darüber), aber gedanklich und mit dem Herzen bin ich dabei und feiere mit all denen, die den Kampf über Jahrzehnte (wie krass eigentlich...) nicht aufgegeben haben und nun dafür belohnt werden. Jetzt sind die "Ewiggestrigen" plötzlich die "Gegenwärtigen" - ein Hauch von Gerechtigkeit.
Sechzig München gibts nur in Giesing.
Und eines Tages wird mein Sohn über seinen ersten Besuch im Sechzgerstadion berichten: Als kleiner Bub an Vaters Hand...